Artikel
0 Kommentare

Re: Aw: Re: Intrinsisches Entertainment

@rumpusQ – 18.03.15 – 14:56 Uhr

Hi!
Ich habe versucht deine Gedanken 38 Stunden lang gut abgären zu lassen und ein paar Kernfragen aus deiner Mail herauszudestillieren …

Warum sind wir alle Narzissten? Warum gieren wir alle nach Aufmerksamkeit? Nun, dafür habe ich mehrere Theorien:

Die vulgär-soziologische Erklärung:
Die Menschen unserer Elterngeneration waren Nachkriegskinder. In meinem Falle Kinder von dysfunktionalen, verängstigten Menschen, die z.T. in Kriegsgefangenschaft waren und – wie mein deutscher Opa – 1947 an irgendeinem Provinzbahnhof aus Rußland zurückgekehrt sind (wenn sie Glück hatten). Unsere Eltern (grob zwischen 1940 und 1960 geboren) haben eine Zeit des Aufschwungs erlebt. Eine Zeit eines vorher kaum gekannten Wirtschaftswachstums, in der die persönliche Freiheit und Selbstentfaltung zum ersten Mal seit mindestens 45 Jahren wieder ein Thema war. Eine Zeit in der die Popkultur entstand.

Wie sehr der Sommer von 1968 mit der kybernetischen Morgenröte in Kalifornien verflochten ist, weißt du selber: Whole Earth Catalog, Das Netz, Steve Jobs, libertärer Liberalismus etc. Das Individuum kam zu neuem Recht.

Und das Individuum ist die Geschäftsgrundlage der kybernetischen Netzwerke (wie die sozialen Netzwerke bei mir heißen). Wir (die Kinder von 1965-1985) sollten keinen Hunger leiden, unser Leben frei gestalten, autonom sein … eine Wahl haben. Dies ging zusammen mit der …

Die ökonomisch-politische Erklärung:
… Notwendigkeit diese Freiheit auch gewinnbringend zu nutzen. Denn alles hat seinen Preis. Dazu Patrick Eiden-Offe:

»Der Berliner Kreative ist (…) Inbegriff des deleuzeschen »Begehrensmenschen«: Das Quäntchen Lust, das er aus seiner grenzenlosen kulturellen Freiheit gewinnen kann, bezahlt er mit einer unmöglichen und mithin unendlichen Arbeit (…)«

Und nicht nur der Berliner. Wir (also mindestens du und ich) sind mit dem Bewusstsein aufgewachsen, dass es nicht reicht nur »über die Runden zu kommen«. Das eigene Leben soll als lustvolle Erzählung inszeniert werden. Man will ja nicht sein wie seine Eltern, die in bürgerlichen Berufen dahintrotten und als Hobby den »vorwärts« zum Altpapiercontainer bringen.

Guy Debord schreibt schon sehr früh (Die Gesellschaft des Spektakels, 1967):

»Das Spektakel ist die andere Seite des Geldes: das abstrakte, allgemeine Äquivalent aller Waren (…) Das Spektakel ist das Geld, das man nur anblickt, denn in ihm hat sich schon das Ganze des Gebrauchs gegen das Ganze der abstrakten Vorstellung ausgetauscht.«

und

»Der als Star in Szene gesetzte Agent des Spektakels ist das Gegenteil, der Feind des Individuums (…) Wenn er auch nach außen hin die Darstellung verschiedener Persönlichkeitstypen ist, zeigt der Konsumstar jeden dieser Typen, als ob er gleichmäßig zur Gesamtheit des Konsums gelangen (…) könne.«

Was labert der Typ da? Nun: Damit in einer Zeit in der keine Warenknappheit mehr herrscht der auf Knappheit beruhende Kapitalismus weiterknirscht, müssen Waren aus dem Nichts erschaffen werden. Diese abstrakten Waren (die bis vor kurzem auf physischen Trägern klebten) ermöglichen unseren Hedonismus: Musik, Coca-Cola, rebel chic, Instagram, Mode, Gauloises, Designerwasser, Jack Wolfskin, Star-Berufe – die Möglichkeiten sein Selbst zu inszenieren hören nie auf. Der Star ist das letzte echte Individuum und nur wer zum Star wird kann sich über die gesellschaftlichen Zustände erheben. »Jede bestimmte Ware kämpft für sich selbst, kann die anderen nicht anerkennen, will sich überall durchsetzen, als ob sie die einzige wäre.« (GDS, 66)

Kommt einem bekannt vor, oder? – Das Alles ist nichts Neues, aber in den 00er Jahren hat sich noch was geändert:

Die kybernetische Erklärung:
Die meisten Kulturwaren haben sich von ihrem materiellen Träger abgekoppelt und damit hat sich ihre Verknappung erledigt. Die verzweifelten Versuche Software, Musik, Filme und neuerdings eBooks künstlich zu verknappen sind auch bald Geschichte.
Der Kapitalismus tut sich schwer mit Waren umzugehen, die im Überfluß vorhanden sind. Also musste eine Ware geschaffen werden die es nicht im Überfluß gibt und deren Preis man (im besten Falle) nicht sehen kann. Und das sind die kybernetischen Netzwerke und Sirenenserver. Die Ware die sie handeln ist Aufmerksamkeit. Eine abstrakte Ware die im Idealfall gegen Geld getauscht werden kann, aber nicht muss.

Feedbackeffekt: Wir spüren das. Wir sind gekränkt. Wir fühlen uns ungerecht behandelt. Aber Narzissten kennen nur eine Lösung: Sich noch mehr in Szene setzen, lauter schreien, Freunde und Follower akkumulieren, optimieren, die Performance steigern.
Die Silicon Valley Firmen wissen das vielleicht nicht bewusst, aber die Theorie der Kybernetik hilft ihnen mit den komplexen Regelkreisen umzugehen. Was dabei zum zweiten Mal stirbt, ist das Individuum.

Ich denke, dass beantwortet auch die Frage, warum alle (arte, sueddeutsche, Spiegel, FAZ) mitmachen. Sie haben gar keinen Begriff mehr davon, was das Andere, Nicht-Spektakuläre sein könnte. Ein Leben jenseits der GfK-Zahlen und Auflagenhöhe? Sinnlos. Allenfalls noch mit Grimme-Preisen erträglich. Ab und zu hört man allerdings noch den tapferen Satz: »Ich mache das Magazin (die Musik, den Film) das/die/den ich selber gerne lesen/hören/sehen würde.«

Und warum kein echtes Feedback? Vielleicht weil wir spüren, dass im Netzwerk keine Menschen zu uns sprechen, sondern Waren auf dem langen Aufstiegsweg zur Star-Ware.

@144000 hat ja die Hoffnung wir Netzteilnehmer könnten unsere Netzsozialisation in die eigenen Hände nehmen, da wir zumindest über diese Phänomene reden und sie erkennen können.

Aber wie sähe ein Ausweg aus? Oder sehe ich die Situation falsch und wir brauchen gar keinen Ausweg? Wie sieht deine »ernsthafte Wissensvermittlung/Legendenbildung« aus?

Ich bin gespannt!

Sub_Kid

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.