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Imaginäre Bücher: Christhardt B. Etzenkirchen – Anzestralität in Welt 3

»Ein mühseliger und strapazierender Unsinn ist es, dicke Bücher zu verfassen; auf fünfhundert Seiten einen Gedanken auszuwalzen, dessen vollkommen ausreichende Darlegung wenige Minuten beansprucht. Besser ist es, so zu verfahren, daß man so tut, als gäbe es diese Bücher bereits, und ein Résumé, einen Kommentar vorlegt.«

Jorge Luis Borges

In dem Buch »Notwendigkeit der Kontingenz in Welt 3« formuliert der promovierte Literaturwissenschaftler Christhardt B. Etzenkirchen eine Kritik am Standardwerk des spekulativen Materialismus (auch: Spekulativer Realismus), dem Buch Nach der Endlichkeit von Quentin Meillassoux.

Quentin Meillassoux fragt sich in seinem Buch – angesichts der Übermacht der post-kantischen Philosophie die er mit dem Begriff Korrelationismus zusammenfasst – wie anzestrale Fakten, ja wie wissenschaftliche Erkenntnis überhaupt interpretiert werden sollte. Der Korrelationismus – so fasst ihn Meillassoux zusammen – sei der Auffassung, dass Denken keinen Zugang zum Ding an sich finde und nur zu den Erscheinungsformen der Dinge vordringen kann.
Allerdings würden wir spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts mit empirischen Daten konfrontiert, die auf eine Realität verweisen die dem Aufkommen der menschlichen Gattung vorausgeht. Diese Realität nennt Meillassoux »Anzestral« und verweist auf Gegebenheiten wie den Big Bang, die Entstehung der Erde oder die Existenz schwarzer Materie.

Wie – so fragt Meillasoux – wäre es möglich diese Dinge zu denken, wenn der Korrelationismus recht habe? In einer Zeit in der (per definitionem) weder der Mensch noch ein anderes Lebewesen existiert hat, gab es keine Entität, die diese Dinge mit seinem Denken korrelieren konnte. Die anzestralen Dinge müssten also als Dinge an sich gesehen werden, zu denen die Mathematik uns Zugang verschafft. Diese These bildet die Präambel für Meillassoux Beweisführung (die er allerdings unabhängig von diesem Gedanken führt).

Etzenkirchen kritisiert den Realitätsbegriff Meillassouxs, in dem er an die Drei-Welten-Lehre nach Sir Karl Popper erinnert. Popper postulierte die Existenz von drei miteinander wechselwirkenden Welten: Die Außenwelt (= physikalische Welt materieller Objekte, z. B. Berge, Autos, Häuser), die Welt des Bewusstseins (z. B. Gedanken, Gefühle, Empfindungen) und die Welt der objektiven Gedankeninhalte (z. B. mathematische Sätze). Die dritte Welt ist in höchstem Maße unperfekt, kann sich grundsätzlich nur der Wahrheit annähren, sie aber nie erreichen. Sie besteht – nach Popper – aus Theorien die aus der Interpretation empirischer Fakten gebildet werden.

Etzenkirchen argumentiert nun, dass empirische Befunde (kosmische Hintergrundstrahlung, prä-humane Fossilien, Relikte aus der Entstehungszeit der Erde) durchaus in der Jetzt-Zeit gegeben seien und somit der Grundgedanken des Korrelationismus in Welt 1 nicht verletzt werde: Es gibt eine Erscheinungsform der Dinge, die dem Geist unmittelbar gegeben ist und von menschlichen Subjekten interpretiert wird.
Die Interpretation dieser Befunde hingegen – die auf die problematische anzestrale Welt verweist – ist eine falsifizierbare Theorie die in Welt 3 aufgestellt wird. Somit verletzten rational denkbare, anzestrale Welten das Prinzip des Korrelationismus nur in Welt 3, aber nicht in Welt 1.

Meillassoux, so Etzenkirchen, habe ein Problem formuliert, dass sich der Wissenschaftsphilosophie nach Popper gar nicht mehr stellen würde. Zwar berühre die Denkbarkeit einer Welt der reinen Dinge an sich (ohne die Existenz des menschlichen Geistes) die Welt 3, aber in Welt 1 bleibe der Korrelationismus unbeschädigt, da empirische Befunde per definitionem gegeben seien und somit dem Denken unmittelbar zur Verfügung stünden.

Eine klare Schwäche in Etzenkirchens Buch besteht darin, dass er nicht auf Meillassouxs eigentliche Beweisführung eingeht, sondern lediglich die Präambel demontiert. Es bleibt jedoch sein Verdienst einen neuen Blickwinkel auf Meillassouxs Standardwerk eröffnet zu haben.

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