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Wahre Worte (II) – Der Niedergang des Journalismus

In der aktuellen Ausgabe der Lettre International findet sich ein fulminanter und dringend nötiger Abgesang auf den zeitgenössischen Journalismus:
Freiwild geschrieben vom Journalisten, Essayisten und Drehbuchautoren Wolf Reiser ist ein scharfzüngiges, analytisches und natürlich rasend polemisches Essay über alle, die sich heute Herausgeber, Redakteure und Journalisten schimpfen. Reiser erzählt:

»In jenen Jahren gelebter Berufung habe ich viel gesehen und viele Menschen getroffen: Boxweltmeister, Nobelpreisträger, Songwriter, Aidsforscher, Mafiakiller, Priester, Minister, Spione, Krankenpfleger, Vietnamveteranen, Bettler, Mörder, Kunstfälscher, Modemacher, Dynamitfischer, Putzfrauen. Ich habe für fast alle namhaften deutschsprachigen Magazine geschrieben.«

Doch dann kam der Bruch:

»… eine langsam erkaltende Liebe zwischen Verlag und Freelancern, Redakteuren und Autoren, Verlag und Redakteuren – eine schleichende Entfremdung, die Irritation, wachsendes Unbehagen im Tun, die Bestürzung und in Folge tapsige Versuche, die Bruchkante zu kitten.«

Ich habe den Artikel abwechselnd mit Schrecken, Schadenfreude und Kampfgeist gelesen. Denn auch wenn Reiser die Gründe für den Niedergang des grantig-eigensinnigen aber aufrichtigen Print- und TV-Personals der 1980er und 90er-Jahre nur anreißt, so lässt sich für uns – die jüngere Generation – doch eine mögliche Widerstandslinie erkennen. Denn das Ganze hatte durchaus ökonomische Gründe:

»Die Dotcomdekade machte den Neoliberalismus dann auf allen Ebenen salonfähig. Focus-Money machte deutschen Spießern Telekom-&-Infineon-Aktien schmackhaft oder listete die fünfzig besten Zahnärzte Bayerns auf. Das Ranking zog ein im deutschen Blätterhaus und PR-Agenturen diktierten nach und nach die Inhalte.«

Also werden wir besser alle Online-Journalisten, digitale Laptop-Rebellen?
Sascha Lobo – der stellvertretend für alle »Kapuzenjournalisten« ab und zu die Zukunft des Journalismus simulieren darf – kriegt gleich zweimal sein Fett weg. Und wenn ich meinen twitter-Feed und die Filmfestivals des letzten Jahres mal Revue passieren lasse, dann kriege ich auch langsam das Kotzen vor Anbiederei an Selbstoptimierung, Egobranding, Social-Media-Webinars und heftig.co-artiger Contentspammerei von einst geschätzten Medien.

Ich persönlich trete ja schon seit circa acht Jahren den Beweis an, dass man regelmäßig unter Ausschluss der Öffentlichkeit interessantes und musikalisches bloggen kann, ohne auch nur mal einen Kommentar zu bekommen. Ist es meine Schuld? Zu wenig SEO, Networking und Retargeting? Schlechte Landingpage, schlechter Schreibstil?

Wolf Reiser – verdienter Autor – berichtet:

»Wenn ich im Jahre 2014 (…) Redaktionen ein profund recherchiertes Thema, in dem bereits einige Vorarbeit enthalten ist, einreiche, folgt zumeist ein Warten ohne Ende. Denn auf 90 Prozent solcher Angebote folgt keine Antwort, keine Eingangsbestätigung, kein Dank, keinerlei Resonanz. Ich spreche hierbei von Themen, die maßgeschneidert sind für das jeweilige Medium und an Kollegen gerichtet, zu denen ein persönlicher Kontakt besteht. Ich spreche von Redaktionen, die einen guten Ruf haben und von denen Stil und Niveau erwartet werden kann: Zeit, FAZ, Welt, Stern, Spiegel, Capital, Feinschmecker, GQ, Wirtschaftswoche, NZ, DU, SZ, Geo, Merian.«

Die sind derweil mit ganz anderen Strategien beschäftigt:

»Im Zuge der karnevalisierten Selbstzerstörung präsentieren die Leitmedien ihre im Minutentakt aktualisierten Netzprodukte wie einen Kessel Buntes: schlampig recherchierte, vorschnell auf den Weg verschickte und albern tendenziöse Politnews mit Bild-affinen Appetizer-Aufmachern wechseln sich mit Lottozahlen, Diättips, Fußballgossip, Modelsex, Börsenlatein, Wetterkapriolen und Wallfahrtsreisen in die Mitte des Ichs ab.«

Und die junge Generation der Online-Journalisten, der Online-Petitionisten, die digitale Bohème, die Revolution des Journalismus 3.0?

»Nichts ist da zu sehen von digitalen Revoluzzern, zeitgeistigen Bastillestürmern oder mit allen Wassern gewaschenen Guerilla-Piraten. Es sind lediglich über elektronische Schrebergärten gebückte Spießbürger, über deren existentielle Unsichtbarkeit und Realitätsferne sich inzwischen schon konservative Hochschulprofessoren beschweren.«

Es lohnt sich den Artikel von Wolf Rieser zu lesen und sein eigenes Tun daraufhin zu reflektieren. Es wäre zu leicht ihn als aus der Mode gekommenen Anti-Imperialisten oder frustrierten Freelancer abzutun. Natürlich drängt sich ab und zu der Eindruck auf, hier erzähle einer von der »guten alten Zeit«, aber viele der Vorwürfe Reisers lassen sich nicht von der Hand weisen.

Was Rieser beschreibt ist ein objektiver Tatbestand und kollektives Schicksal zweier (oder dreier) Generationen von AutorInnen und wer glaubt diesem durch rasches avancieren zum Starjournalisten oder zumindest in die Festanstellung zu entgehen, der ist der kalifornischen Ideologie schon hoffnungslos verfallen.

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