Den Berlinern ist es bekannt: Am 23. Mai 2011 hat ein Brandanschlag auf eine Kabelbrücke am S-Bahnhof Ostkreuz in weiten Teilen des Berliner Ostens und in Brandenburg den S-Bahn- sowie den Regional- und Fernverkehr lahmgelegt. Dazu gibt es im Netz ein Bekennerschreiben der linksradikalen Gruppe Das Grollen des Eyjafjallajökull. (Der Eyjafjallajökull ist übrigens der sechstgrößte Gletscher Islands mit eingebauten Vulkan, der letzmalig 2010 aktiv war (gestreikt hat).)
Der Kernsatz des Schreibens ist folgender:
„Alle haben Verantwortung für das, was geschieht. Alle haben die Möglichkeit, zu sagen: Stopp! Nicht mit uns. Wir bestreiken die quälende und mörderische Normalität. Es muss sich was ändern. Grundlegend.
Mobilität garantiert das reibungslose Funktionieren zur Aufrechterhaltung eben jener Normalität. Diese zu unterbrechen, wenn auch nur in bescheidenem Umfang, ist unsere Absicht. Diese Art von Mobilität hat nichts mit Freiheit oder Bewegungsfreiheit zu tun.“
[via linksunten.indymedia.org]
Diese rudimentäre Theorie der Sabotage und der Rolle der Mobilität in der spätkapitalistischen Spätmoderne haben die Autoren bewusst oder unbewusst aus der schon etwas länger kursierenden situationistischen Flugschrift Der kommende Aufstand (als pdf hier) entnommen.
Wie ist das eigentlich mit der theoretischen Literatur zur Revolution? Lenin, Bakunin, Blanqui, Comité invisible, Guy Debord und die vielen Aufrufe im Netz, auf unzähligen Flugblättern und in Zeitschriften/Zeitungen. Wer soll die Revolution durchführen, gegen wen und was kommt danach? Meistens verharren die neueren Schriften in radikaler Pose oder Revolutionsromantik. Oder rechtfertigen a posteriori Anschläge gegen die Infrastruktur des öffentlichen Nahverkehrs oder Fetische des Privateigentums (aka Autos).
Das System verurteilt diese Anschläge, kann sie gar nicht anders lesen als chaotische Akte der Willkür, die sich gegen seine Bürger und die öffentliche Ordnung richten. Doch wissen die Täter selber was sie wollen? Haben ihre Communiqués etwas mit der symbolischen und faktischen Bedeutung der Anschläge zu tun?
Das Unsichtbare Komitee fantasiert einen Zusammenbruch der Infrastruktur und der öffentlichen Ordnung als den Beginn einer Situation.
Einer Situation in der die Menschen wieder wirklich miteinander reden und sich selbst organisieren. Eine Situation in der die Menschen auf Fähigkeiten zurückgreifen die sie an andere abgegeben haben. Open Source, wie backe ich mein eigenes Brot, wie organisiere ich ds Internet, die Kommunikation, wie bewege ich mich von A nach B. Es ist die Frage was an einer solchen Selbstorganisation (die der Kollege Aram Lintzel als „Jean Jacques Rousseaus Traum von einer authentischen Gesellschaft ohne Konflikte“ beschreibt) faktisch besser wäre als an der jetzigen.
Nimmt der busfahrende Kommunarde aus Prenzlauer Berg nicht zuerst die eigene Mischpoke mit, zumal er den Kraftstoff auch von assozierten Kommunarden bekommt? Wie schnell sind dann einige gleicher als andere? Die Vollversammlung als regulierendes Instrument lehnt das Unsichtbare Komittee ab, sie träumen von sich intuitiv entwickelnden Entscheidungsstrukturen.
„Jegliche Instanz der Repräsentation sabotieren / Das Palaver verallgemeinern / Die Vollversammlungen abschaffen“
[via linksunten.indymedia.org]
Ein Journalist der FAZ, Nils Minkmar, kommentierte das Buch Der kommende Aufstand mit einem Vergleich. Er beschreibt eine Situation die im Nachkriegs-Irak entstand:
„Der Staat Saddams war abgeschafft, amerikanische Soldaten waren noch nicht in ausreichender Zahl im Land. Da gaben sie sich zu erkennen, all die Lehrer, Wissenschaftler und Juristen, die einen freien und demokratischen Irak wollten. Sie kandidierten für Ämter, gründeten Parteien, zeigten Gesicht und bekannten Farbe. Und dann, schreibt Dexter Filkins, „dann gingen sie zur Schlachtbank“.“
„Zu Dutzenden, Hunderten, schließlich Tausenden wurden die Intellektuellen, Aktivisten und Aufklärer des neuen Irak mitsamt ihren Familien umgebracht: von alten Baath-Milizen, von schiitischen Milizen, von Al Qaida, von irgendwoher bezahlten Jungs im Geländewagen.“
[via faz.net]
Interessanterweise kritisiert Nils Minkmar nicht die Idee einer spontanen Selbstorganisation, sondern nur deren Verletzlichkeit. Eine beliebte rhetorische Figur der Konservativen: „Wählt uns oder das Chaos!“ Mehr als den Sicherheits- und Ordnungsapparat wollen diese Parteien gar nicht versprechen, obwohl die Macht de facto aus mehr besteht: Sie entscheidet über Verteilung von Geldern, Atomprogramme und Bauprojekte, obwohl sie doch die freiheitlich-demokratische Ordnung nur absichern wollte.
In seinem Film Manderlay demonstriert Lars von Trier seine Vorstellung dessen was mit unter Protektorat entstehenden Gesellschaften passiert: Wenn die Schutzmacht abrückt brechen uralte Instinkte aus, der Mensch wird zum Raubtier oder zum (Re-)produzenten eingeübter Macht- und Unterwerfungsrituale. Die biologistische Diskurskeule: Der Mensch ist einfach so und muss deshalb vor sich selber geschützt werden ODER Never change a running system. So sieht es die Mehrzahl der Menschen.
Was tut die selbsternannte, im verborgenen operierende Avantgarde dafür, diese Widersprüche dialektisch aufzuheben?
Nichts! Ihnen zufolge entstehen Ordnungen und Beziehungen spontan, eine andere Welt kann überhaupt erst gedacht werden, wenn der Schleier des Spektakels fortgerissen wurde. Ich mag so etwas riskieren wollen, aber wie erklärt man das seinem Vater, seinen Kollegen, seinen Freunden? Habe ich dann noch Milch zum Frühstück und Bier zum Abendbrot? Werde ich dann eine Wohnung haben? Solange eine revolutionäre Avantgarde diese Fragen nicht beantworten kann (oder will) tut sie nicht gut daran mit den zu befreienden Massen direkt zu kommunizieren. Wieviele Berliner haben das Signal des Brandanschlags am Ostkreuz richtig verstanden? Zumal Bürger dieser Stadt ja schon über einen harmlosen Warnstreik der Gewerkschaften verärgert sind.
Die Liebe ist das wirklich Revolutionäre, sagen die Romantiker. Ein Brandanschlag ist keine Politik der Freunde, sondern eine Politik des Dogmas. Auch wenn das Dogma undogmatisch daherkommt.
