Für mich ist David Foster Wallace ja einer der wichtigsten Gegenwartsschriftsteller. Gerade auch weil sein Opus Magnum Infinite Jest – nach Ansicht gängiger Schreibschulen und -ratgeber – alles falsch macht. Auf den ersten paar Dutzend Seiten weiß der Leser erstmal nicht worum es überhaupt geht und ob er es eventuell mit einer Hauptfigur zu tun hat. Im ganzen Buch tummeln sich gut einhundert Nebenfiguren die mit dem ohnehin kryptischen Hauptplot nichts zu tun haben und mittlerweile gibt es ein eigenes Wiki, das die Orientierung im Roman vereinfachen soll.
D.F.W. hat bei der Überarbeitung des Buches wohl kaum gekürzt, es strotz nur so vor absurden Fremdwörtern, rund ein Zehntel besteht aus zwanghaft ausführlichen Fußnoten und manche Figuren dienen nur dazu seitenweise philosophische Abhandlungen auf Universitätsniveau zu verkünden.
Und doch ist in dem Roman kein Wort überflüssig. All die Redundanzen und Nebensächlichkeiten beleuchten aus verschiedenen Blickwinkeln – gleichsam holographisch – die zahlreichen Kernthemen des Buches, das letztendlich wohl von Allem, zumindest aber von den großen Menschheitsproblemen im 21. Jahrhundert handelt – und von Zeit, Drogenmißbrauch, Leistungsdruck, Depression, Jugend, dysfunktionalen Eltern, Behinderung, Umweltverschmutzung, Tod, Kapitalismus, Anhedonie, Mediensucht, Crossdressing, Kleinkriminalität, Tennis, Filmtheorie, Kunst, Spieltheorie, Phänomenologie, spekulativem Realismus und Selbsthilfegruppen.
Für alle denen es schwerfällt einen Zugang zu dem Roman zu finden, gibt es glücklicherweise seit gestern ein Theaterstück, dass auf der Kurzgeschichte Auf dem Totenbett, deine Hand haltend, bittet der Vater des jungen gefeierten Off-Broadway-Stückeschreibers um eine Gefälligkeit von D.F.W. beruht.
Und was soll ich sagen? Der Regisseur René Braun hat alles richtig gemacht. Das Stück ist mit knapp einer Stunde angenehm kurz, mit dem monologisierenden Schauspieler Frank Grupe exzellent besetzt und von Jazz-Schlagzeuger und Komponist Sebastian Deufel (Gisbert zu Knyphausen) effektiv am Schlagzeug begleitet.
Die Videoinstallation ist nicht nur funktional, sondern eröffnet auch eine weitere Tiefendimension im Stück und schafft zusammen mit dem Bühnenbild von Tal Shacham eine runde Inszenierung.
Für werdende Väter ist das nur Stück schwer auszuhalten, gerade in der für Wallace typischen Abwesenheit jeder Dialektik. Der am Sterbebett räsonierende und zeternde Vater ist voller Hass und Verbitterung auf sein – von seinem Sohn – verpfuschtes Leben. Und die Zuschauer (betont auf das männliche Geschlecht) fragen sich, ob es wirklich so schlimm ist. Wurde uns die Wahrheit über Kinder über Jahrhunderte vorenthalten und hinter einer Fassade aus Heuchelei und lächelnder Verlogenheit versteckt? So wie Frank Grupe es hier schildert, muss es wohl sein – für einen anhedonistischen und tendenziell egozentrischen Menschen. Und aus jeder Pore dringt die Seelenqual von David Foster Wallace. Unnötig zu sagen, dass das Stück gleichzeitig brüllend komisch ist …
Noch Samstag am 25. Oktober bietet sich die Gelegenheit das Stück im TAK Theater im Aufbau Haus anzusehen – hoffentlich auch in weiteren Aufführungen.
Und spätestens jetzt, nach dieser und der grandiosen Inszenierung von „Unendlicher Spass“ durch das Hebbel am Ufer im Sommer 2012, ist endgültig klar:
D.F. Wallace gehört auf die Bühne!
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