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Romane für das 21. Jahrhundert?

„Little Brother“ von Cory Doctorow und „Saal 6“ von Achim Szepanski

Ich habe in den letzten Tagen Auszüge aus den Romanen „Little Brother“ von Cory Doctorow und „Saal 6“ von Achim Szepanski gelesen. Obwohl die beiden Romane sprachlich, zeitlich, publikationschronologisch (VÖ Little Brother: 2008) und ästhetisch weit auseinanderliegen, so haben sie doch eines gemeinsam: Ihr programmatisches Anliegen eine Gegenwartsanalyse oder -beschreibung mit den Mitteln der Prosa oder des epischen Romans zu liefern.

Cory Doctorow, der definitiv der lesbarere der beiden ist, bedient sich in Little Brother eines (zumindest in der deutschen Übersetzung) oft peinlich klingenden Tekkie-Sprechs um in die Erlebniswelt eines Hackers oder Digital Natives einzutauchen.

„Mein SchulBook zu cracken war simpel gewesen. Der Crack war binnen eines Monats nach Einführung der Maschine online zu finden, und es war eine billige Nummer – bloß ein DVD-Image runterladen, brennen, ins SchulBook stecken und die Kiste hochfahren, während man ein paar Tasten gleichzeitig gedrückt hielt. Die DVD erledigte den Rest und installierte etliche versteckte Programme auf dem Laptop, die von den täglichen Fernprüfungs-Routinen der Schulleitung nicht gefunden werden konnten. Man musste bloß hin und wieder ein Update aufspielen, um auch die neuesten Testverfahren der Direktion zu umgehen; aber das war ein bescheidener Preis dafür, ein bisschen Kontrolle über die Kiste zu bekommen.“
[Deutsche Übersetzung hier]

Von den Gründern des Genres (William Gibson, Neal Stephenson) ist das meilenweit entfernt. Ich hatte streckenweise das Gefühl hier würde versucht lahme Erzählprosa durch Jargon und Verweise auf technologische Gimmicks aufzuwerten. (Englisches Original hier)

Achim Szepanskis rhizomatische Versuche alles in einem Satz zu sagen und die Welt an Hand von hochgradig mit Bedeutung aufgeladenen Begriffen zu erklären, sind unlesbar.

In jeder Charakter- und Szenenbeschreibung verstecken sich Signifikanten eines vermeintlich höheren politischen Bewußtseins, welches aber an keiner Stelle auch nur skizzenhaft geschildert wird.

„Sam Kimberlay fordert Dr. Dr. Hanselmann mehrmals eindringlich auf, doch bitte zumindest mit einer grob skizzierten Taktik politischer Interventionsmöglichkeit an den Start zu gehen, was er auf der für 18:00 Uhr im Konferenzraum 29/4 im 29. Stock kurzfristig anberaumten Pressekonferenz ja auch zum Besten geben könne, welche aber mehr hergeben müsse, als die Nacherzählung des (De)konstruktionspapiers des in Frankfurt-Eschborn ansässigen Marktforschungsinstituts DM, wonach hauptsächlich in Bankerkreisen, aber inzwischen auf alle Berufs- und Bevölkerungsschichten übergreifend, ein höchst bedenkliches, notorisches oder infektiöses, aber bisher durch keinen Verbreitungsalgorithmus oder etwa durch Reaktionsdiffusionsgleichungen identifizierbares Mikro-Herdenverhalten hauptsächlich in urbanen Ballungszentren zu beobachten sei, das am effektivsten außer Kraft gesetzt werden könne, wenn man es den Medien zum Ausverkauf anbiete, indem man beispielsweise an der eventtechnisch, akklamativen Aufblähung arbeite, um das Event in hyperkomplexe Kontexte zu transferieren, zu transkommunizieren, wenn nicht gar zu transzendieren, bis man einen Tipping Point erreiche, an dem das Event eine massenpsychologische Popularität bzw. Anziehungskraft gewänne, dass die Veranstaltung sich für einen großen Kinofilm z.B. des deutschen Regisseurs Eichendorf bestens eigne bzw. sich als eigenständiges Genre in der auf Unterhaltung bedachten TV- und Internetwelt wiederfände, was das in seiner Komik kaum zu überbietende Herdenverhalten endgültig abkühlen könnte, um stattdessen mit Hilfe der Medienindustrie die kulturelle Leitfigur des glücklich neuronalen Menschen als reizbares kybernetisches Maschinenwunder mit Affirmationskraft zu propagieren, dessen weltdurstigen Sinne als die Obertonreihen komplexer psychopolitischer und körperlicher Funktionen in komplexe Schaltpläne, Zeitreihen und Gleichungen eingehängt seien, am besten natürlich in der EB.“
[via de:bug]

Und das ist EIN Satz! Banale Fakten, Manager-Klischees („während das Mädchen ihn mit pathologischen Double-bind-artigen Gesten – sie trug einen paillettenbesetzten Disco-Romper, so nennt man Overalls in Hot-Pants-Länge – eindeckte und -dickte und in American English auf ihn einredete“) und Casino-Kapitalismuskritik kleiden sich in einen sperrigen postrukturalistischen Philosophiejargon.

Gesetzt den Fall es gäbe hier tatsächlich etwas noch Unbekanntes zu entdecken, bräuchte es ein Hauptseminar um das Buch auf seinen immanenten Gehalt hin aufzudröseln.

Auch Szepanski hat ein berühmtes Vorbild: David Foster Wallace, der wiederrum ein (von ihm bestrittenes) Vorbild in Thomas Pynchon hat. An die literarische Größe ihrer Vorbilder kommen beide Autoren nicht heran, wohl aber können beide Romane als Experimente auf den jeweils abgesteckten Feldern gelten.

Der Vorbehalt, ich verstünde es einfach nicht was der Autor mir sagen will, gilt natürlich auch hier, zumindest bei Szepanski. Zwar ist eine Autorenintention vormoderne Erwartungshaltung des Rezipienten, aber die pflege ich im Großen und Ganzen auch einzufordern und meine sie bei Pynchon, Gibson und Wallace auch erahnen zu können. Und das Szepanski mir gar nichts sagen will, kann mir auch keiner erzählen. Dann lässt man keine Wohlstandsverlierer in einer Systemgastronomie auftreten.

Schlimmer als die Romane von Szepanski sind allerdings die haarsträubenden Interviews, die er z.B. hier und hier gegeben hat. Theoriefragmente die wild um die gestellten Fragen herummäandern und in denen diese Fragen wie Treibholzsplitter in einem Tsunami wirken, die ab und zu an unerwartbaren Stellen aus dem Redefluss auftauchen um die Illusion eines Dialogs zu erzeugen. Das ist entweder hochabstrakte postmoderne Kunst oder Zuschauerbeschimpfung auf Deleuzianisch.

To be continued…


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