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Imaginäre Bücher: Christhardt B. Etzenkirchen – Anzestralität in Welt 3

»Ein mühseliger und strapazierender Unsinn ist es, dicke Bücher zu verfassen; auf fünfhundert Seiten einen Gedanken auszuwalzen, dessen vollkommen ausreichende Darlegung wenige Minuten beansprucht. Besser ist es, so zu verfahren, daß man so tut, als gäbe es diese Bücher bereits, und ein Résumé, einen Kommentar vorlegt.«

Jorge Luis Borges

In dem Buch »Notwendigkeit der Kontingenz in Welt 3« formuliert der promovierte Literaturwissenschaftler Christhardt B. Etzenkirchen eine Kritik am Standardwerk des spekulativen Materialismus (auch: Spekulativer Realismus), dem Buch Nach der Endlichkeit von Quentin Meillassoux.

Quentin Meillassoux fragt sich in seinem Buch – angesichts der Übermacht der post-kantischen Philosophie die er mit dem Begriff Korrelationismus zusammenfasst – wie anzestrale Fakten, ja wie wissenschaftliche Erkenntnis überhaupt interpretiert werden sollte. Der Korrelationismus – so fasst ihn Meillassoux zusammen – sei der Auffassung, dass Denken keinen Zugang zum Ding an sich finde und nur zu den Erscheinungsformen der Dinge vordringen kann.
Allerdings würden wir spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts mit empirischen Daten konfrontiert, die auf eine Realität verweisen die dem Aufkommen der menschlichen Gattung vorausgeht. Diese Realität nennt Meillassoux »Anzestral« und verweist auf Gegebenheiten wie den Big Bang, die Entstehung der Erde oder die Existenz schwarzer Materie.
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»Wenn durch eine Einwirkung auf die äußeren Sinne ein Bild ensteht, kommt es neben den Einwirkungen auf die Sinnesorgane gleichzeitig zu Vorgängen im Gehirn, und das Bild ist dann eine Realität. Erscheint dem Geist ein Bild ohne einen entsprechenden gleichzeitigen Vorgang im Körper, spricht man von einem Gedanken. Die Fähigkeit zwischen Gedanken und Realität zu unterscheiden, nennt man Bewußtsein.«

Alfred Smee

»Zu den auffallendsten Zügen im Leben der Masse gehört etwas, was man als ein Gefühl von Verfolgtheit bezeichnen kann, eine besondere zornige Empfindlichkeit und Reizbarkeit gegen für allemal als solche designierte Feinde. Diese können unternehmen, was immer sie wollen … – alles wird ihnen so ausgelegt, als ob es einer unerschütterlichen Böswilligkeit entspringe, einer schlechten Gesinnung gegen die Masse, einer vorgefassten Absicht, sie offen oder heimtückisch zu zerstören.«

Elias Canetti

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testcard #24 – Bug Report. Digital war besser

Am 26. November erscheint die vierundzwanzigste Ausgabe der testcard. Ich habe diesmal einen Text über den berüchtigten Roboterjournalismus und die Rolle der künstlichen Intelligenz in der Literatur der Zukunft geschrieben: „Der Autor im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“.

„Der Prozess der Automatisierung von Arbeitsprozessen ist wahrlich nichts Neues, aber bisher betraf er häufig niedrig qualifizierte oder stark repetitive Tätigkeiten, also abstrakte Arbeit die in unserer Gesellschaftsform nur einen geringen Tauschwert erzielt. Das Neue am Gerede vom Roboterjournalismus ist die Angst vor den »kreativen« Algorithmen. Plötzlich betrift die Automatisierung nicht mehr nur eintönige und gesellschaftlich gering geschätzte Arbeit sondern das Herz der menschlichen Kultur. Die Fähigkeit zur kreativen Schöpfung!“

Wie immer ist die aktuelle Ausgabe ein Feuerwerk an popkulturellen Inspirationen und Cutting Edge-Theorie irgendwo zwischen Dada und akademischem Diskurs. Natürlich gibt es auch einen ausgiebigen Rezensionsteil von Ton und Text.

testcard #24: Bug Report. Digital war besser

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Ein sophistischer Lehrsatz

Ein sophistischer Lehrsatz besagt, dass, wenn alle Menschen das zusammentragen was sie nicht mögen oder gar hassen und auf einen Haufen werfen und anschliessend jeder das mitnimmt was er mag, nichts liegenbleibt. Wenn es einen solchen Ort gäbe, dann müsste man dort die tollsten Sachen finden. Zum Beispiel bei der Heilsarmee. Stattdessen sammeln sich dort hässliche Klamotten, hässliches Geschirr, Gesellschaftspiele ohne Würfel und verstaubte Bücher. Irgendetwas ist also nicht in Ordnung mit diesem Lehrsatz.

Da wir in einer Gesellschaft mit einer endlichen, ja abzählbar endlichen, Anzahl von Individuen leben, kommt der sophistische Lehrsatz niemals zur Anwendung. Stattdessen können sich die „Marktteilnehmer“ erstaunlich gut darauf einigen was sie als wertvoll empfinden und was nicht.

Der sophistische Lehrsatz ist allerdings nicht per se falsch, sondern nur unter Idealbedingungen anwendbar. Was ihn von potentiell erreichbaren Denkmodellen wie etwa dem Sozialismus jedoch unterscheidet, ist, dass er nichtmal unter günstigsten Bedingungen denkbar ist. Denn es wird sich niemals eine unendliche Anzahl Menschen an einem definierten Ort zu einem definierten Zeitpunkt einfinden. Höchstens da wo sich zwei Parallelen treffen: Im Unendlichen.

Ist also eine potentiell erreichbares Denkmodell einem definitiv unerreichbaren Lehrsatz vorzuziehen? Der Sophismus wurde ja zu seiner Zeit als Begründung für einen Moral- und Ethikrelativismus verwendet und war somit nie als Realzustand intendiert. Genau so wenig übrigens wie Schrödingers Katze, halb tot und halb lebendig, bis einer den Kasten aufmacht und nachsieht. Dieses (meta)physikalische Denkmodell erinnert ja auch frappierend an Berkeley:

Wenn niemand beobachtete wie die Sophisten in dem Lehrsatz alle Dinge auf einen Haufen werfen, gibt es diesen Zustand auch nicht, sondern er zerfällt in eine Wahrscheinlichkeitsfunktion. Wenn aber ein einziger Mensch das Zusammentreffen der Sophisten denkt, so ist er gleichzeitig alle Sophisten und jedes der auf dem Haufen liegenden – geliebten und verabscheuten – Gegenstände.

Folglich liebt/verabscheut dieser Denker auch alles zur selben Zeit. „Ordinary physical objects are composed solely of ideas“, schrieb Berkely. Naja, da ist ja mal etwas zurecht auf den Haufen der Philosophiegeschichte geworfen worden.