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Diggin’ The Crates: Tortoise – Millions Now Living Will Never Die

Auf dem Plattenteller liegt Millions Now Living Will Never Die von Tortoise und dreht sich. Die Platte müsste ich mir so im Jahre 1996 gekauft haben, wenn ich mich recht erinnere. Ich weiß noch, daß ich mich damit nach einer durchzechten Nacht zu einer Freundin geschleppt – die Platte hatte ich die ganze Nacht mit mir rumgetragen – und sie ihr zum Geburtstag geschenkt habe. Ich trug eine karierte Homeboy-Stoffhose, es war Sommer, ich war extrem entspannt, leider fanden die Beschenkte und ihr Freund die Platte nicht so toll.

Teile dieser Platte habe ich dann im Oktober diesen Jahres in einem Theaterstück in Altenburg unerwartet wiedergehört: ‚Die Nibelungen‘ von Hebbel in einer Neuinszenierung von Amina Gusner und Anne-Sylvie König. Dazu Chicago-Postrock. Diese Platte ist einfach zeitlos. Zeitlos in dem Sinne, dass sie nie voll eingeschlagen ist – wiewohl sie Tortoise irgendwie weltbekannt gemacht hat – aber immer noch in einem Teil meines Bewusstseins weiterlebt. Bei jenem Theaterstück sind sofort tausende von Erinnerungen und Emotionen angetriggert worden.

Auf einem Tortoise-Konzert in der Kantine in Köln war ich mal rotzeblau und mein Kumpel Öpi und ich haben die Xylophon(!)-Passagen laut mitgegrölt. Das war zu Zeiten des Albums TNT und ich glaube wir haben die gediegenen Tortoise-Fans etwas irritiert. Tortoise und Tocotronic gehören übrigens zu der handvoll Bands die mir überhaupt mal ein Live-Konzert wert waren.

Auf dem hinteren Teil des ersten Viertels der ersten Seite läuft jetzt gerade eine verlangsamte und dadurch irgendwie ‚gedubbte‘ Version des Eingangsstücks. Ist es eigentlich ein Verlust, dass man in den Zeiten von Digital-Downloads nicht mehr den physikalischen Ort eines Musikabschnitts innerhalb eines Gesamtwerkes angeben kann?

Auf der zweiten Seite – wieder so ein selten gewordener Terminus – befindet sich das dynamikverliebte Nicht-Song-Stück Glass Museum bei dem mich meine Mutter mal gefragt hat, ob das unsere Band sei, die das spielt. Ob sie weiß, dass ich weltberühmt wäre, wenn dem so wäre? Oder sind Tortoise maßlos überschätzt und meine Mutter ist die Einzige die es gemerkt hat? Oder hält sie mich heimlich für ein musikalisches Genie?

Den Muckerpart in ‚Glass Museum‘ hätten sich Tortoise allerdings sparen können, er zerstört die Atmosphäre die die dekonstruktivistischen Songruinen vorher und nachher schaffen.

Irgendwie klingt der Part wie ein letzter Aufschrei des Muckertums gegen die körperlose Gravität des Postrock.

Insofern markiert Millions Now Living Will Never Die immer noch den Beginn einer Epoche die von Anfang an keine werden wollte.

Millions Now Living Will Never Die klingt wie eine Rundfunksendung aus dem All, bei der die Gitarrensounds an den scharfen Kanten von unzähligen Satelitten vorbeigeschrammt sind und dadurch zu einem nicht-essentialistischen, seiner Zeichenhaftigkeit beraubtem, reinen Sound geworden sind. Kein Blut, kein Schweiß, keine Tränen. Man kann eben nach Jimi Hendrix kein Gitarrenvirtuose mehr sein. Zumindest nicht im Diskurskontinuum von Tortoise.

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