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Vaporwave Essay – testcard #23

Was soll denn eigentlich verschwunden sein? – Vaporwave und die Leere hinter der Oberfläche

Vor vielen Jahren sprach Diedrich Diederichsen mal in einer Videolecture über ein Ereignis, das seine Wahrnehmung von Musik fundamental verändert habe. Er habe gerade eine CD gehört – ich meine es war das Album L@N der gleichnamigen Düsseldorfer Band – als ihn ein Freund anrief. Der Freund, der via Telefon Zeuge der Musikaufnahme wurde, habe ihn gefragt, ob er gerade Musik aus dem Internet streame. Diederichsen erklärte sich diese merkwürdige Frage damit, dass der Freund den abstrakten, von allen Realwelt-Signifikanten bereinigten, Sound von L@N offenbar mit dem Internet und der spezifischen Internettechnik »streamen« assoziiert habe.

Diese Lecture, längst in den Weiten des Internet verloren, kam mir wieder ins Bewusstsein, als ich in einer Bestenliste des Blogs tinymixtapes.com das Album Vanishing Vision von INTERNET CLUB entdeckte.


Blitzartig wurde ich in die Corporate Identity des Acts eingesaugt: Das im Anime-Stil gestaltete Albumcover zeigt eine weichgezeichnete Miami Vice-Version eines Straßenzuges in Shibuya oder Nanjing Lu in Shanghai, eine klassische Metapher des Cyperpunk: die dystopische Megacity als Kritik einer durchkapitalisierten Welt. Billboards und Videoprojektionen sollen über das reale Elend, die deprimierende Realität hinwegtäuschen. Der Albumtitel Vanishing Vision drückt dasselbe auf textlicher Ebene aus: Eine Vision (also etwas das der Ordnung des Irrealen angehört) verschwindet – vanished – sie geht verloren.

vanishing vision

Und INTERNET CLUB produziert den Soundtrack zu diesem Verlust: Eine mit einem Bandpassfilter bearbeitete – also auf bestimmte Frequenzen reduzierte, geloopte und mit Reverb, Echo und Störeffekten bearbeitete Version der Musik die für gewöhnlich in Telefon-Warteschleifen, Imagevideos, Flughafen-Lounges und Zahnarztpraxen vor sich hin dudelt und die irgendwie »Internet« ist. Sie klingt abgehoben, transzendent, seltsam körperlos, nach der grenzenlosen Leere die sich hinter einer hochglanzpolierten Oberfläche verbirgt. Manche Tracks erinnern an den sich endlos wiederholenden MIDI-Sound eines Computerspiel aus der 8-Bit-Ära, dem man hilflos ausgeliefert war, wenn man an einer besonders kniffligen Stelle feststeckte.


Die Website von INTERNET CLUB (mittlerweile leicht umgestaltet) ist eine Imitation content-überfrachteter Download-Seiten wie MediaFire, sendspace und FileShareHQ. Links oben ist ein Clipart eines Laptops zu sehen, aus dem ein schillerndes Polarlicht entweicht, und die Alben erscheinen als in poppigen Farben und unterschiedlichen Schriftgrößen gesetzte Links – eine wahnwitzige Appropriation des semi-legalen Nerdlayers des WWW. Und genauso klingt die Musik von INTERNET CLUB.

Das Genre, Subgenre oder Microgenre, unter dem INTERNET CLUB und ähnliche Acts wie MediaFired, 情報デスクVIRTUAL, James Ferraro etc. subsumiert werden, nennt sich »Vaporwave«.

Der Begriff leitet sich von dem IT-Slangwort »Vaporware« ab, das »eine Produktankündigung bezeichnet, deren Auslieferungsdatum mehrfach auf unbestimmte Zeit verschoben wurde oder bei der die Auslieferung des Produkts nicht zu Stande kam.« Das Suffix »-wave« ist dabei dem Genredachbegriff »New Wave« der 1980er-Jahre entlehnt, über den Eugene Wiener schrieb, er bezeichne »eine neue Mode, deren Form und Inhalt austauschbar sind.« So steht Vaporwave auch in der direkten Nachfolge der Microgenres Chillwave, Ghostwave, Witchwave und Coldwave.
Auf tinymixtapes beschreibt James Parker Vaporwave als »glossy corporate mood music, dredged from the nether regions of the internet.«

Vaporwave ist die Ästhetisierung der Leere, die hinter den seltsam zeitlosen Imagefilmen, Corporate Videos und 3D-Animationen lauert, deren Musikspur die Protagonisten des Genres für ihre Musik bearbeiten.

Genau wie Vaporware sind diese Imagefilme Relikte eines Produktversprechens, das nie eingelöst wurde (oder nie eingelöst werden wird). Der semantische Overhead eines Werbespots (die Signifikanten für Sex, soziale Akzeptanz, Lustbefriedigung, Luxus, Zärtlichkeit etc.) verweist immer ins Leere – die Ersatzbefriedigung ist das Produkt. Dies illustriert z.B. das Doppelvideo zu den Tracks »Final Tears« und »Web Fantasy (Real Estate Outside Euclidean Space Mix)« von INTERNET CLUB:


Der zweite Teil »Web Fantasy« ist das Cut-Up eines Produktpräsentationsfilmchens über einen an der Kamera vorbeigleitenden Limousinen-Van, in dessen Innenraum sich Zeichen der Dekadenz finden: Mega-Flat-LCD, Minibar, Ledergarnituren, futuristische Konsolen und audiophile Lautsprecher. Dazu schraubt sich eine Bassline stoisch in die Höhe und ein Synthesizer dudelt fröhliche Melodien. Menschen sind nur medial vermittelt – über den Flatscreen oder wortwörtlich als Schatten – anwesend. Immer und immer wieder sehen wir dieselben sinnentleerten filmischen Gesten, die nur ein Ziel haben: Ein Produkt zu bewerben, das sich 98% der Menschen nicht leisten können.

Die »Web Fantasy« – der Klammerzusatz »Real Estate Outside Euclidean Space« deutet es bereits an – ist ein virtuelles Produkt, der Versuch etwas zu verkaufen, das möglicherweise nie hergestellt werden wird. Das Video erzeugt durch simple Repetition und Montage einen Moment der Verwirrung, eine kognitive Dissonanz. Das Luxuskonsumversprechen des Originalvideos wird transzendiert, da die neu arrangierten Signifikanten als absurd und inhaltsleer entlarvt werden.

Ähnlich arbeitet auch der Portugiese MediaFired, der für sein Video zum Track »Pixies« – ein Reverb-Loop des Songs »Wuthering Heights« von Kate Bush – vier Szenen eines alten Pepsi-Werbespots mit den in den 1990er Jahren weltberühmten Supermodels Cindy Crawford, Tyra Banks und Bridget Hall zu einem verstörenden Cut-Up verarbeitet hat. Die zärtlich-erotischen Gesten der Verführung (die im Originalvideo einem Neugeborenen gelten) evozieren ein Bild von transzendenter Weiblichkeit, die im selben Augenblick mit der Zuckerbrühe von Pepsi verknüpft wird. Durch die permanente Wiederholung der Schwenks und Überblendungen des fünfzehn Jahre alten Spots und die engelhaften Modulationen in Kate Bushs Gesang, wirkt das Video wie aus einer Geisterwelt herübergeweht und geradezu lächerlich metaphysisch überfrachtet.

Beide Videos unterziehen ihr Ausgangsmaterial einer strukturalistischen Tätigkeit, wie sie Roland Barthes beschrieben hat:

»Das Ziel jeder strukturalistischen Tätigkeit, sei sie nun reflexiv oder poetisch, besteht darin, ein »Objekt« derart zu rekonstituieren, dass in dieser Rekonstitution zutage tritt, nach welchen Regeln es funktioniert (welches seine »Funktionen« sind).«

Diese Kulturtechnik erinnert auch an die frühen Vertreter der Pop Art oder der Appropriation Art wie z.B. Richard Prince, der Werbemotive so oft reproduzierte, bis etwas in den Bildern sichtbar wurde, was vorher übersehen werden konnte. Sein Bild Untitled (Cowboy) von 1989 ist eine Kopie (Fotografie) einer Kopie (Werbeanzeige) eines Mythos (Cowboy). Indem er seine Motive erneut fotografierte und ein Repertoire verschiedener Strategien (Unschärfe, Körnung, Vergrößerung, Beschneidung) auf die Bilder anwandte, machte er eine neue Bedeutungsdimension sichtbar – er beraubt die Bilder ihrer »Natürlichkeit« und entlarvt sie als »halluzinatorische Fiktionen der Begehren einer Gesellschaft.«


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Sind sich die Vaporwave-Produzenten der kunst- und philosophiegeschichtlichen Tradition bewusst, in der sie stehen?

Zumindest der Texaner Will Burnett, der sich hinter den Projekten INTERNET CLUB, Ecco Unlimited, ░▒▓新しいデラックスライフ▓▒ und Datavision Ltd. verbirgt, verrät in einem Interview mit Adam Harper die Kenntnis von Guy Debords Hauptwerk »Die Gesellschaft des Spektakels«. Guy Debord, der das Leben in den kapitalistischen Gesellschaften als »abgesonderte Pseudowelt« beschrieben hatte, in der »alles was unmittelbar erlebt wurde (…) in eine Vorstellung entwichen« sei, schlug als eine Lösung des Problems die Technik des Détournement vor: eine Zweckentfremdung vorgefundener Filmsequenzen, Fotos, Comicbilder und Texte, die eine neue Bedeutungsebene schaffen soll.

Was er mit INTERNET CLUB tun wollte, so Will Burnett, sei »something very Debordian, about how this capitalistic society has generated a dehumanizing hyperreality by focusing on infinite generation of ideals as shown through commodities. I view society as entering a hyperreal state (…)«

Mit den Techniken des fehlerhaften Loops, des Reverbs und der Audiokompression erreiche er »the defamiliarisation of things we’ve become so used to that we don’t notice them any more.«

Was sich zunächst wie verkopfte Avantgardetechnik anhört ist im Ergebnis extrem eingängige und verführerische Popmusik. Man fragt sich, woher die wohlige Melancholie oder Euphorie kommt, die einen überfällt, wenn man die Tracks von INTERNET CLUB, MediaFired oder 情報デスクVIRTUAL hört. Einerseits ist es sicherlich der lustvolle Effekt des Wiederkennens von Standard-Riffs – eingespielt von namenlosen Studiomusiker_innen – oder das Amüsement über die – schon in den Originaltracks vorhandenen – Klischees von »Musikalität«, »Virtuosität« und »Improvisation«. Die Hörer_innen nehmen die gleiche ironische Distanz ein, die sie beispielsweise auch gegenüber dem Genre »peinlichste Lieblingslieder« haben. Andererseits scheint es zweifellos eine Ästhetik des Verschwindens und der Leere zu geben, einen wohligen Schauer, der einen überfällt, wenn man an das Ende aller Dinge denkt.

»Hinter jedem Bild ist irgend etwas verschwunden – doch ebendies macht seine Faszination aus. Hinter der virtuellen Realität in all ihren (…) Formen ist das Reale verschwunden – doch ebendies fasziniert alle Welt.«

Diese These, aus dem letzten Text des französischen Philosophen Jean Baudrillard, ist die affirmative Version der ernüchterten Feststellung Debords »Alles, was unmittelbar erlebt wurde, ist in eine Vorstellung entwichen.«

Doch was ist das eigentlich, das »Reale«, das verschwunden ist? Was haben wir denn je unmittelbar erlebt? Im Allgemeinen gehen wir davon aus, dass unsere Sinne uns mit der Realität verbinden. Je mehr Sinne in die Wahrnehmung der Realität involviert sind, desto realistischer erscheint sie uns, desto mehr tauchen wir in sie ein. Nun ist gerade das Genre des Cyberpunk, auf das Vaporwave in seiner Ikonografie immer wieder verweist, permanent mit dem Gedanken einer vollen Immersion beschäftigt, also einer subjektiven Ununterscheidbarkeit von Realität und Simulakrum durch virtuelle Stimuli. Die Stimulation mit digital generierten Bildern und Klängen findet längst statt, und das nicht nur in audiovisuellen Medien. Auch die wachsende Verbreitung von Shopping Malls, beliebte Inspirationsquelle von Vaporwave, ist ein Beispiel dafür, wie der öffentliche Raum durch eine pseudoauthentische Kommerzkultur verdrängt wird.

»Einkaufszentren sind ausgeklügelte Kommunikationsmedien, dazu geschaffen, Elemente der Kultur in kommerziell simulierten Formen zu reproduzieren.«
Jeremy Rifkin – Access

Die Bild- und Soundwelten von Vaporwave zeigen uns durch ihre Verfremdungstechniken noch einmal für einen kurzen Moment wie schnell wir bereit waren, uns auf künstliche Bildwelten einzulassen. Wie lange werden wir diese innere Distanz noch einnehmen können? Wann wird eine Augmented oder Virtual Reality für uns transparent und kann nicht mehr als solche wahrgenommen werden? Wächst eine Generation der »Virtual Natives« heran, für die eine solche innere Distanz nicht mehr vorstellbar sein wird? Und wird diese Generation nicht sogar im Recht sein?

Der Philosoph Thomas Metzinger betont in seinem Buch Der Ego-Tunnel immer wieder, dass wir einer Illusion auferliegen, wenn wir glauben, dass wir im direkten Kontakt mit der Realität sind. Die Philosophie nennt das »naiver Realismus«. Unser Gehirn, so Metzinger, ist bereits ein Holodeck, gespeist von Daten unserer Sinnesorgane, die allem Anschein nach überhaupt nicht verlässlich sind:

»Unser bewusstes Wirklichkeitsmodell ist eine niedrigdimensionale Projektion der unvorstellbar reicheren und gehaltvolleren physikalischen Wirklichkeit, die uns umgibt (…)«

Erfahrungen und Erlebnisse, darauf deuten aktuelle neurowissenschaftliche Experimente hin, sind innere Eigenschaften des Gehirns und lassen sich künstlich induzieren.

»Wenn man das minimale neuronale Korrelat eines gegebenen, bewussten Erlebnisses aktiviert, dann erhält man das bewusste Erlebnis selbst.«

Was aber ist nun Realität, wenn es nur auf den Grad der Immersion ankommt?

Vaporwave erzeugt das wohlige Gruseln, dass uns überfällt, wenn uns klar wird, dass wir nicht wissen was »da draußen«, jenseits der Grenzen unseres Ego-Tunnels, wirklich ist und dass die Bilder des Spektakels nur eine weitere Ebene in der Ordnung der Simulakren sind. Vaporwave spielt mit dem Gefühl der Euphorie, die aufkommt, wenn man feststellt, dass ein Signifikant kein Signifikat hat und der semantische Vektor ins Leere läuft.

»It’s an extra-geographical, overly-rich slipstream of signs, omens, and synchronicities that point to nothing other than themselves, a kaleidoscopic information overload that sprawls out into a post-human event horizon.«
Jonathan Dean

Das Genre Vaporwave hat aufgehört zu existieren bevor es überhaupt an die Oberfläche kommen konnte. INTERNET CLUB hat bereits mit dem Album Final Tears das letzte Kapitel angekündigt und reagiert nicht mehr auf Interviewanfragen zu dem Thema. 情報デスクVIRTUAL ist in eine andere Lebensform »transmigriert«. Die Produzenten und Theoretiker des Genres sind weitergezogen und arbeiten an neuen Projekten und Soundentwürfen. Bis auf ein paar im Netz verstreute ZIP-Files hat Vaporwave keine Spuren hinterlassen, »will have yielded hardly any physical releases and will barely ever have been heard “live”.«

Vielleicht ist Vaporwave auch gar keine originäres Genre gewesen, sondern nur ein Computerfehler, der gescramblete Muzak wiedergegeben hat: eine kollektive Halluzination eines musikalischen Genres. Vaporwave war gleichzeitig Kritik und Affirmation einer Musik, die nie etwas anderes wollte, als den globalen Warenverkehr zu schmieren. Vaporwave hat uns ermöglicht die Oberflächen für einen Moment zu transzendieren und zu sehen, was dahinter ist: nichts. Oder um es mit Jean Baudrillard zu sagen: Das Simulakrum dritter Ordnung maskiert die Abwesenheit einer tieferliegenden Realität (es »gehört zur Ordnung der Zauberei«), während das Simulakrum vierter Ordnung auf keine Realität mehr verweist: es ist sein eigenes Simulakrum.

Und so hat vielleicht auch die Eingangs erwähnte Videolecture von Diedrich Diederichsen nie existiert – es sei denn, jemand entdeckt sie zufällig auf seinem Harddrive.

(Zuerst erschienen in testcard #23 – Transzendenz.)
tc23b

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