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Re: Back to: Intrinsisches Entertainment oder »The Sirenenserver Diaries«

@rumpusQ – 29.03.15 – 00:23 Uhr

Hi!
Ich denke wir nähern uns langsam dem Kern der Angelegenheit. Ein paar deiner Gedanken (»Jede menschliche Kommunikation ist ein Tauschhandel: aufmerksam sein, Aufmerksamkeit erfahren«, »das Internet (ist) ein Kommunikationsnetzwerk (…) in dem (…) Aufmerksamkeit zu einer wichtigen Währung geworden ist«) kamen ja auch bei mir schon implizit vor. Und deine Fragestellung »Kann eine neue Währung auch eine Chance sein? Hat diese Währung die Kraft, das System, in dem sie zirkuliert, neu zu ordnen?« geht genau in die richtige Richtung.

Schön fand ich auch deine Beobachtung, dass »wenn man sein Sein im Netz erst einmal anfängt als ein unternehmerisches zu betrachten: Ja, dann offenbart sich einem plötzlich das ganze Potential des Internets, dann umweht einen dieser Duft des neuen Kontinents, der neuen Welt, der ungeahnten, unendlichen Möglichkeiten.«

Bei mir wurde dieser wohlbekannte Thrill, die euphorische Ich-AGisierung des Netzes, zu dem unangenehmen Gefühl, »dass im Netzwerk keine Menschen zu uns sprechen, sondern Waren auf dem langen Aufstiegsweg zur Star-Ware.«

Bevor wir aber über Lösungsansätze diskutieren, würde ich gerne unsere Abstraktion der hochmotivierten und leistungsbereiten Netz-Unternehmer auf empirische Füße stellen, mit ein paar Kurzbiografien von Menschen die ich persönlich kenne. Die Namen sind abgekürzt und/oder verändert:

The Sirenenserver-Diaries

J. war einer der ersten Menschen mit denen ich das Internet erforscht habe. Damals hießen die Sirenenserver noch sendmoreinfo.com und SaveBySurf (alter Artikel von 1999) und waren plumpe Versuche das Multi-Level-Marketing ins Netz zu bringen.

Ich stieg schnell wieder aus, aber J. – der vorher sein Geld mit dem Umlöten der Sony Playstation verdient hatte – kippte voll darauf ein. Über einen RL-Kontakt (am schwarzen Brett der Uni Köln) begann er eine Seite für Beamtenkredite auf Google zu pushen.

J. begann sich tiefer und tiefer in die Geheimnisse der SEO zu graben und verdiente zeitweise seinen Lebensunterhalt damit. Die erste Krise kam im Januar 2004 mit dem Florida Update. J. verlor seine monatliche Rendite und musste neue Strategien erdenken. Google hatte gemerkt, dass die SEO-Fummeleien und das Überschwemmen des Internets mit Fake-Content (siehe auch Linkfarmen) die Suchmaschinen verstopften …

J. treibt sich noch heute auf Business-to-Business-Sirenenservern wie AdButler (The Most Loved Ad Server to Maximize Revenue) rum und verkauft u.a. Fatboy-Sitzsäcke. Seine Miete bezahlt er aber von seinem Job als Elektrotechniker.
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S. ist ein Ex-Knacki, der die größte mir bekannte Reggae-Sammlung in CD und Vinyl besitzt. Er hat einen normalen Handwerksberuf und verkauft im Sommer Merchandise auf Reggae-Festivals im In- und Ausland. Außerdem hat er einen florierenden eBay-Shop. Er hat mir mal gesagt, dass er den Sinn von Freizeit nicht versteht. Wenn er bei eBay hockt, könne er wenigstens Kohle machen.
»Nur Bares ist Wahres«, pflegt er zu sagen. Er verkauft nicht nur CDs, sondern auch Bangladesch-Reggae-Ramsch. Trotzdem ärgert er sich über die immer schlechter werdenden Konditionen auf eBay. Zuviele Händler machen den Markt hypertransparent, so dass man nicht mehr Pfennigartikel für zweistellige Eurobeträge verhökern kann. In der wenigen Freizeit beklagt sich S. über die Kommerzialisierung des Reggae und das sinkende Interesse der nachwachsenden Generation für die Roots des Reggae und Dub.
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G. ist Leiter eines Gospelchors im Rheinland. Er und seine Frau haben regionale Textilwaren in einem Shop in der Fußgängerzone verkauft – gehäkelte Deckchen, rauhe Tagesdecken, anachronistische Stickbilder – so’n Kram. Da die Ladenmiete nicht mehr reinkam und die Arbeit hinter der Ladentheke so zeitraubend ist, ist G. ins Netz abgewandert.

Zwar müsse man jetzt mit Textilkleinkrämern aus der ganzen Welt wettbewerben, sagte er kürzlich meinem Vater, aber wenn man seine Nische gefunden habe, dann ginge es einigermaßen gut. Allerdings geht viel Zeit an der »Hotline« drauf – die ältere Kundschaft ist sehr »serviceintensiv«.

Als ich ihm erzähle, dass auf etsy.com (Your place to buy and sell all things handmade) junge GroßstädterInnen ihren Weg in das Kleinunternehmertum häklen und stricken, ist er baß erstaunt. »Lohnt sich das denn?«
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P. ist angehender Schriftsteller und nicht mehr ganz so jung. Seit 15 Jahren stellt er seine Texte ins Netz, bloggt, schreibt in Wikis auf Foren und auf zahlreichen Plattformen. Jede neue Seite, die verspricht »kollaborativ zu schreiben«, »non-linear zu erzählen«, die neuen crossmedialen Möglichkeiten zu nutzen oder sein eigenes Magazin zu releasen (Create. Publish. Ka-Ching!) fixen ihn an und machen ihn gleichzeitig nervös. Die Anderen machen das doch auch. Und sind damit erfolgreich? Die Fotos auf den Blogs und Websites zeigen erfolgreiche urbane Menschen, die mit Latops oder Tablets im Kaffee sitzen. Be your own Captain! Der digitale Böhme. Ein Schriftsteller braucht doch ein Publikum!? Bei facebook clicken ab und zu ein paar Leute »Gefällt mir!«. Und der Dings hat seine Gothic-eBook-Serie selbst verlegt. War total erfolgreich … Irgendwann muss es klappen. Qualität setzt sich doch durch?

»Cheerleader küsst man nicht«, »Herzklopfen und kalte Füße«, »Glück auf Gansett Island«, »Ein Strauß voller Liebe«, »Lavendelmond«
Top 100 Kindle Charts

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O. ist leidenschaftlicher Fotograf und eine Art Dichter. Er hat eine kleine Familie und womit er »sein Geld verdient« weiß ich gar nicht. Jedenfalls durchstreift er fast täglich den Prenzlauer Berg und macht Fotos von klarer Schönheit. Oft mit verstecktem Humor, manchmal traurig. Aufmerksame Beobachtungen die locker als Vivian Maier-eske Straßenfotografie und Epochendokumentation durchgehen. Außerdem schreibt er Aphorismen auf twitter. Dutzende täglich. Anfang des 19. Jahrhunderts wäre er Mitglied einer Künstlergemeinschaft gewesen – vieleicht geht das heute auch noch. In den sozialen Netzwerken geht seine Kunst im allgemeinen Rauschen unter. Es sei denn, man ist ein Perlentaucher …
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Und auf keinen Fall dürfen wir deine Freizeit vergessen, die »letzte Bastion der Ineffizienz«! So ähnlich hat es Wolfgang Müller auf einer Lesung heute abend auch ausgedrückt. »Freizeit ist da, wo abseits der Produktivitätslogik Neues entstehen kann« – oder so ähnlich. Und diese Freizeit wollen wir tatsächlich nicht im Netz vergeuden, oder?

Sub_Kid

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