[Anja Schwanhäußer: Kosmonauten des Underground. Ethnografie einer Berliner Szene. Frankfurt/New York: Campus 2010.]
In ihrer Ethnografie über den Berliner Techno-Underground, die auf Feldforschungen in den Jahren 2002-2005 basiert, beschreibt die Autorin eine Szene, die sie nach Bourdieu als neues Kleinbürgertum bezeichnet. Dieses kennzeichnet sich dadurch, dass es in der Stadt lebt und sich sowohl von der proletarischen als auch der Hochkultur abgrenzt. Statt dem Wunsch beruflich oder finanziell aufzusteigen und sich ins Private zurückzuziehen, steht eine hedonistische Lebensweise („Die Pflicht zum Genuss”) im Vordergrund und ein sich permanentes im Raum bewegen – so „führt die Fluchtlinie des neuen Kleinbürgertums nach unten und nach außen und wieder zurück“ (265).
Das permanente Bewegen wird ebenso als Reiz empfunden, wie die auf Vergnügen ausgerichtete Lebensweise.
Beide Verhaltensweisen bekräftigen in den Augen der Akteure die Einstellung, nicht zur Mehrheitsgesellschaft, zum Mainstream dazuzugehören.
Um in den Genuss zu kommen, dienen den Akteuren des Techno-Underground ungenutzte städtische Räume, die sie zu temporären Locations umgestalten um dort ihre Feste zu inszenieren. Und hier liegt auch die Besonderheit der Szene:
Die Locations sind immer nur vorübergehender Natur. Sie werden erobert, genutzt und anschließend (mehr oder minder freiwillig) verlassen, um sich auf die Suche nach neuen Orten zu begeben.
Dabei sind vor allem die atmosphärischen Qualitäten des Raums wichtig. Es handelt sich häufig um Gebäude aus DDR-Zeiten mit entsprechender Historie, in denen mit Licht und Musik gespielt wird. Auch kommt dem Moment eine besondere Bedeutung zu, da sich das neue Kleinbürgertum nicht festlegen will. Ihr Prinzip und „ihre Ordnung ist der [permanente] Wandel“ (261).
Allerdings ist der Begriff des Techno-Underground für Außenstehende etwas verwirrend, handelt es sich doch nicht um die „etablierte“ Underground-Technoszene, die schon früh u.a. durch Gabriele Muri, Philipp Anz/Patrick Walder, Ronald Hitzler, Julia Werner und zuletzt Tobias Rapp erforscht wurde, sondern um Akteure, die sich vor allem der Hippie- und Punktradition verpflichtet fühlen. So entstammen viele der Hauptprotagonisten der Collectives aus der ehemaligen Hausbesetzer-Szene, die jetzt in Wagenburgen leben und verorten ihren Stil auch dementsprechend. Statt eines regressiven „Zurück zur Natur“ gilt bei den Punks „Zurück zum Beton“ wie es die Punkband S.Y.P.H. einst besang, während Rousseaus Ausspruch Leitmotiv für diejenigen ist, die sich der Hippiebewegung zuordnen. Dennoch ist beiden „Gruppen“ das Bestreben gleich, durch die Ästhetisierung des Alltags die „Trennung zwischen den Individuen zu überwinden“ (12).
Die Stärken von Schwanhäußers Ethnografie liegen einmal in der gelungenen Beschreibung der Akteure des Feldes. Dies ermöglicht dem Leser/der Leserin, sich in deren Situation hineinzuversetzen. Es lässt sich gut nachvollziehen, wie sie ihren Alltag strukturieren und aus welchen Motiven sie handeln. So werden einige der Hauptprotagonisten vorgestellt und ausführlich über ihren Lebensstil, ihre Kleidung, Drogenkonsum, Arbeit und „Partyverhalten“ berichtet.
Darüberhinaus gelingt Schwanhäußer im theoretischen Abschnitt des Buches eine eindrucksvolle Darstellung des Wandels der Stadt Berlin und der Gesellschaft im Allgemeinen. Es wird deutlich, wie stark sich inzwischen subkulturelle Werte in der Mehrheitsgesellschaft etabliert haben, bzw. wie nah beieinander Selbstverwirklichung und tendenziell antikapitalistische Einstellungen dem neoliberalen Paradigma des projektförmigen Daseins (in Anlehnung an Boltanski/Chiapello) sind.
Zudem legt Schwanhäußer dar, welche Bedeutung die Szene insgesamt für das Bild der Stadt und somit auch für Postadoleszente in ganz Europa hat, die bis heute in die Stadt strömen. So kann das Buch auch als eine Art Vorgänger von und Ergänzung zu Tobias Rapps „Lost and Sound“ (2009) angesehen werden.
Wo es Rapp um die Beschreibung des explodierenden Rave-Tourismus durch „Easy-Jet-Raver“ in die etablierten Technoclubs geht, zeigt Schwanhäußer die Undergroundszene vor der massenhaften Internetnutzung auf, die – wenn auch unbeabsichtigt – einen Teil dazu beitrug, den Ruf einer Feiermetropole zu generieren.
Die eigentliche Musik wird, obwohl sie der Mittelpunkt und wohl auch Grund der Partys ist, in Schwanhäußers Dissertation, die diesem Buch zugrunde liegt, nur angestreift. So wäre es interessant zu wissen, was das Spezielle am Techno und seinen Varianten ausmacht, bzw. ob es nicht doch Analogien gibt, zwischen der Fluidität der Szene und dem Fluiden des DJ-Mixes, bei dem permanent Neues im Fluss des Übereinanderblendens mehrerer Stücke entsteht.
Die oft betonte Freiheit seitens der Akteure täuscht darüber hinweg, dass deren Lebenslagen häufig extrem prekär sind – nicht nur in finanzieller Hinsicht – und es sich hier eher um Selbstausbeutung denn -verwirklichung handelt.
Viele der „normalen Raver“, die im Buch fast nicht beschrieben werden, da es sich größtenteils um die Macher hinter den Kulissen handelt, nehmen diesen Lebensweg als einen Fluchtweg vor anderen Problemen. Auch der massive Drogenkonsum, der aus eigenen Beobachtungen nicht nur aus Cannabis sondern auch aus Amphetaminen, Metamphetaminen und anderen Substanzen besteht, deutet darauf hin.
Resümierend betrachtet, gelingt Anja Schwanhäußer eine Ethnografie einer postmodernen Szene, die sich sehr positiv von anderen Werken über die Technoszene im weiteren Sinne abhebt und dies zusätzlich mit Urbanität (auch in ihrer historischen Entwicklung), theoretischen Raum- und Schichtkonzepten in Verbindung bringt und anschaulich die kausalen Zusammenhänge aufzeigt.
[Diese Rezension erschien zuerst in: Hegner, Victoria; Hemme, Dorothee (Hg.): Kulturen. Feldforschung@cyberspace.de, Heft 2/2011, Göttingen, S. 62-64]