„Am Rande jedes gesellschaftlichen Systems existieren Menschen die auf das Ende dieses Systems warten. Es sind autonome Subjekte die ohne die permanente Revolution nicht leben können. Ist ein System zerschmettert und wird durch ein neues abgelöst folgt nach einer kurzen Phase der Euphorie die alte Stagnation.“

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Shawn Austin – Extinguisher – Das vierte Kapitel

4. Kapitel: Brian Wilson

Das Letzte an das Shawn sich erinnern konnte, war ein Gefühl als ob sich sein Gehirn wie ein altmodischer Fernseher ausgeschaltet hätte. Für einige Sekunden glühte die Kathode noch nach und auf dem Schirm raste der grün schimmernde Elektronenstrahl in sinnloser Hektik auf einem kleinen Spot hin und her. Dann blieb nur noch metallisch-graue Leere.

Jetzt spürte er heftige kurze Schmerzen in seinem Schädel und sein innerer Receiver schaltete von zufallsverteiltem Schneegestöber auf einen belegten Kanal. Über ihn gebeugt stand Robert „Bob“ Palewski, sein Trainer, und schlug ihn mit der flachen Hand ins Gesicht. „Was für einen Scheiß die um diese Zeit senden“, dachte Shawn verwirrt und hob abwehrend die Hand. „Wach auf du Pflaume. Oh Mann, ich habe mein ganzes Geld auf dich gesetzt und du lässt dich von diesem Zombie umnieten bevor der erste Tisch geflogen ist.“ Shawn erhob sich instinktiv um zur Fernbedienung zu greifen und den Kanal zu wechseln. Bob griff seine ausgestreckte Hand und schüttelte seinen Oberkörper wild hin und her. „Hallo? Was ist los mit dir?“ In Shawns Bewusstsein begannen die Kathoden sich langsam zu erhitzen, Elektronen zu emittieren und die Ablenkeinheit nahm ihre Arbeit wieder auf.

Was war passiert? Brian Wilson hatte ihm, mit einem Polizeischlagstock in der Hand und in einem fort ständig „Nimm dies, Manson!“ brüllend, in einem Seitengang zwischen Sparringsraum und Wrestling Arena aufgelauert und ihn niedergeschlagen.

Damit hätte ja auch niemand rechnen können!“, bellte er Bob an. „Ach nein?“, entgegnete dieser sarkastisch, „Natürlich nicht, sonst hätte ich ja auch keine zwei Hunderter auf dich gesetzt!

Weißt du was ich am seltsamsten fand…?“, entgegnete Shawn ohne auf Bobs merkwürdigen Einwand zu reagieren, „Er trug ein Patchwork-Oberteil aus mit Nägeln besetzten Chromplaketten, das nahtlos in eine Schädelkappe aus demselben Material überging.“ – „Wer? Heel Raven?“ –
Nein, Brian Wilson. Ich glaube die Drogenexzesse in den Siebzigern haben ihm noch stärker zugesetzt als die Meisten glauben.“ Besorgt musterte Bob seinen Schützling. „Oh Mann! Scheinbar hat es dich doch schwerer erwischt als ich angenommen hatte.“ – „Er hat ohne Unterlass mit diesem Bullenschlagstock auf mich eingedroschen. Mann, ich werde nie wieder diese verdammten Beach Boys hören können.“
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Shawn Austin – Extinguisher – Das dritte Kapitel

3. Kapitel: Shawn Austin

Sehr viele Biere und einige Tequilas später hatte Felix von einem redseligen und spendierfreudigen Mann in einem mittelklassigen schwarzen Anzug erfahren, dass es sich bei dieser Veranstaltung um ein Dark Match einer zweitklassigen Wrestlingliga handele und dass es nachher noch mit Canned Heat aufgepeppt werden würde. „Sonst guckt sich den Mist doch keine Sau an“.

Nach einigem Nachfragen klärte ihn der verwunderte Mann auf: „Das Match wird hier vor zahlendem Publikum aufgezeichnet, später mit Konservenbeifall und -buhrufen zusammengeschnitten und auf irgendeinem Kabelkanal ausgestrahlt.“ Offenbar standen die Gewinner von Wrestling-Fehden schon im Vorhinein fest und waren den Smarts, also den Leuten die über genügend Insiderwissen verfügen, bereits bekannt. Felix fragte sich verwundert was wohl der Sinn einer Sportart war, bei der ein vorgefertigtes Drehbuch über den Ausgang des Kampfes entschied. Diese Vorgehensweise konnte nur erfolgreich sein, solange es genügend Menschen gab die den Ausgang des Matches nicht kannten. War nämlich die Wahrscheinlichkeit dass Spieler 1 gewinnt, also p(Gewinn1), gleich eins, resultierte daraus ein mittlerer Informationsgehalt H der nach

H = -∑ p(gewinn1) ld p(gewinn1)

gleich Null war. Der mittlere Informationsgehalt, in Anlehnung an die Thermodynamik auch Entropie genannt, wäre also minimal. Die Entropie wiederum drückte den Ordnungsgrad eines Systems aus. Ordnung war definiert als ein Mangel an Zufälligkeit. Niedrige Entropie bezeichnete einen hohen Ordnungsgrad und hohe Entropie einen niedrigen Ordnungsgrad (also Chaos). Für einen Smart befand sich ein Wrestlingmatch also in einem perfekten Ordnungszustand. Nicht so für Felix, den die Hardcore-Fans als einen Mark bezeichnen würden, jemanden der Wrestlingmatches für echt hält oder über so gut wie kein Insiderwissen verfügte. Offenbar waren aber die meisten Fans Marks, ansonsten würde die Austragung eines Matches ja völlig redundant sein.

Während Felix dieser längst vergessen geglaubte informationstheoretische Wirrwarr aus seinem Studium im Kopf herumschwirrte, schien ein neues Match zu beginnen.

„Meine Damen und Herren ich bitte um ihre Aufmerksamkeit für ein TLC Match. Ja sie haben richtig gehört, heute wird ein Green Boy aus dem Roster von Bob Williams gegen den bekannten Heel Raven in einem TLC Match antreten. Meine Damen und Herren in der linken Ecke: mit einem lächerlichen Gewicht von 160 Pfund: Shawn Austin!“

Felix neuer Freund erklärte ihm hastig, dass ein TLC Match ein Kampf war, in dem ein Tisch, eine Leiter und ein Stuhl als Waffen erlaubt waren. Der Wrestler der den Namen Shawn Austin trug, sah aus als fühlte er sich äußerst unwohl in dem rosafarbenen Catch-Outfit in das man ihn gesteckt hatte. Auf der Videoleinwand konnte Felix das nette Brady-Bunch-Gesicht erkennen, das unglücklich aussah und so gar nicht zu einem Wrestling-Star passen wollte. Er erinnerte sich an eine alte Sledge-Hammer-Folge in der Sledge zu einem griesgrämigen Amish-Väterchen sagte: „Hab ich ihr Gesicht nicht schon mal auf einer Haferflockenpackung gesehen?
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Shawn Austin – Extinguisher – Das zweite Kapitel

2. Kapitel: Jonny Stamboli vs. Vinnie Valentino

…und wurde über alle üblen Erwartungen hinaus überrascht. Man hatte doch tatsächlich die gute alte Tradition der Rundennummern schwingenden Playmates beibehalten und abgehalfterte Ex-Soap-Darstellerinnen trugen cellophanbespannte Tafeln durch den Ring. Felix irritierte nicht die übliche spermageladene, aggressive Stimmung der zwischen Industrieschweißern und Bankkaufleuten oszillierenden Klientel, sondern der eher überraschend hohe Anteil an „New Economy“-Männern, die sich doch eigentlich in einer Phantasmagorie zwischen Stretch-Limos und Edelprostituierten bewegen sollten. Und nicht in einem zweitklassigen Boxclub. Aber irgend so etwas musste das ja schon sein was sich diese vermeintlichen Gewinnertypen leisten können. Hauptsache immer die Illusion haben, dass man den eigenen Marketing- und Werbehalluzinationen nicht hinterherhinkte. Die diffusen Glücksversprechungen die diese Lifestylisten rund um die Uhr durch alle Kanäle hinauspusteten gehörten ja zum Wesen des Kapitalismus. Wer würde sich schon 40-50 Stunden in der Woche zum Lohnsklaven machen lassen, wenn er nicht in irgendeiner Traumwelt lebte?

Außerdem mussten die Kommunikationskanäle ja mit irgendeiner Botschaft gefüllt werden. Auf einer Informationsveranstaltung der Gesellschaft für Rundfunkentwicklung hatte mal ein eifriger Alt-Ingenieur die versponnenen Pläne der Programmredaktion erläutert:

Man müsse über das bahnbrechende MXF-Format gewährleisten, dass zukünftig alle Media-Inhalte über Palmtop, Handy, Internet, Videotext, Multimedia-Kioske und Television den Kunden erreichen. Welche Inhalte den Medienkonsumente denn überhaupt so dringend erreichen müssen verschwieg der Technikpionier.

Ist erstmal der Kanal erschaffen wird auch die Nachricht folgen. Forward Ever! Backward Never! Mayday! The Judgement Day!

Was fordert aber ein offener und leerer Kanal, geschaffen von positivistischen Technokraten? Genau! Content! Content um jeden Preis um der Entropie entgegenzuarbeiten. Und genau aus diesem Grund gab es Veranstaltungen von solch erstaunlich existentieller Leere wie diese Wrestling-Veranstaltung, auf der Felix nun gelandet war.

In dem speckigen blauen Boxring, der Wrestling Arena, kämpften gerade zwei Paradiesvögel gegeneinander, die der Leuchttafel zufolge Vinnie Valentino und Jonny Stamboli hießen. Ein verhärmter, schlaksiger Mann schrie dazu unentwegt auf ein altmodisches Kondensatormikrofon ein: „Stamboli beginnt das Match mit einem schönen Superplex über das oberste Seil!“ Einer der beiden Wrestler setzte seinen Gegner auf das oberste Seil des Rings, steckte dessen Kopf unter seinen Arm, stemmte ihn vertikal hoch so dass dieser kerzengrade in der Luft stand und ließ sich selber nach hinten fallen. Der gegnerische Wrestler landete unsanft auf seinem Rücken.

„Es scheint als dominiere Jonny das Match bisher ohne große Gegenwehr. Valentino wagt ein paar schwache Punches. Stamboli rächt sich dafür mit ein paar Clothlines.“

Der Wrestler, der sich wohl Jonny Stamboli nannte, rannte nun mit zur Seite ausgestrecktem Arm auf seinen Gegner zu. Für einen Moment sah es so aus als ob er ihn mit dem Arm am Hals getroffen hätte, doch anscheinend hatte er lediglich den Brustkasten getroffen. Er wiederholte diese Aktion noch zweimal, bis sein Gegner am Boden liegen blieb. „Der Ringrichter zählt einen Two Count. Doch was ist das? Valentino erhebt sich und rächt sich bei Jonny Stamboli mit einem Single-Leg Slam. Stamboli liegt auf dem Boden und was ist das? Valentino setzt zu einem Achilles Tendon Hold an und führt ihn tighter aus als nötig ist.“

Nachdem sich der Kämpfer, bei dem es sich offenbar um Vinnie Valentino handelte, wieder vom Boden erhoben hatte, packte er seinen Gegner bei den Schultern, stellte ein Bein hinter ihm auf und brachte ihn so zu Fall. Danach schmiss er sich selber zu Boden, griff das Bein des am Boden liegenden Wrestlers, wickelte sein gegenüberliegendes Bein darum und spannte seine Oberschenkelmuskeln an. Dann nahm er den Fuß des stöhnenden Kämpfers unter seinen Arm und verdrehte dessen Achillessehne. Felix sah verstört weg. Die Stimme des Kommentators überschlug sich:

„Das war wohl das aus für Jonny Stamboli. Vinnie Valentino hält ihn mit den Schultern auf der Matte. Count! One! Two! Three! Der Gewinner des zweiten Matches heißt: Vinnie Valentino!“

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Shawn Austin – Extinguisher – Das erste Kapitel

1. Kapitel: Mark’s Wrestling Bar

Felix beobachtete die Spiegelungen im Panoramafenster des U-Bahn-Wagons. Durch seinen verwirrten Kopf schossen lose assoziierte Gedankenfetzen. Warum prallen die Photonen nur von der Scheibe ab, wenn es dahinter dunkel ist? Warum gibt es überhaupt Fensterscheiben von so beträchtlicher Größe in einer U-Bahn, wo es doch die meiste Zeit rein gar nichts zu sehen gab? War Glas etwa billiger als das Blechmaterial aus dem der Rest der Wagons bestand? Oder steckte die Werbeindustrie dahinter, die sicherstellen wollte dass die Plakate an den Haltestellen auch von den Fahrgästen wahrgenommen wurden?

Im Fenster spiegelten sich die Gesichter der üblichen U-Bahn-Klientel. Blass-fahle Neongespenster, den Blick ins Unendliche fokussiert, die Mundwinkel mit verbissenen Lippen leicht nach unten gekräuselt. Menschen die wohl an ihr Leben nach der U-Bahnfahrt dachten, ein Leben das sie als glücklich antizipierten. Menschen taten dies ständig. Während sie ein Zwölftel ihres Tages in öffentlichen Verkehrsmitteln verbrachten, üblicherweise vier Zwölftel in ihrer Arbeitsstelle und mindestens drei Zwölftel mit schlafen, träumten sie davon was sie mit dem restlichen Drittel des Tages anstellen würden. Freilich ging von diesem Drittel noch die Zeit für das Besorgen und Einnehmen von Nahrung, die Körperpflege und die versuchte Anbahnung von Geschlechtsverkehr ab. Blieben im Idealfall noch vier Stunden um die Welt zu verändern.

„Der Sprung in einen kühlen See nach acht Stunden Arbeit gehört auf jeden Fall auf die Liste der Dinge die die Welt verändern können“

hatte Marek gesagt, als sie heute nach der Arbeit mit dem Auto zum See gefahren waren. Tamara aus der schicken Werbeagentur, Marek, ein Literaturwissenschaftler mit Wirtschaftsambitionen, und Felix der notorisch unerfolgreiche Freiberufler. Auf dem Weg zurück in die Stadt war das Gespräch der bereits alkoholisierten Männer auf das leidige Thema Politik gekommen. Felix vermied normalerweise solche Diskussionen da ihm das Meinungseinerlei der von den einschlägigen Infotainment-Sendungen gespeisten Realos gehörig auf den Sack ging. Wie hatte das Foucault genannt? Ach ja, Diskurs! Nun, dann war der Diskurs der meisten seiner Freunde und Kollegen die sich überhaupt für Politik interessierten klar abgesteckt: Erhaltung der Standortvorteile durch Opfergaben an die Wirtschaft, ein gesundes Misstrauen gegen im Lande arbeitende Ausländer gepaart mit einem dazu umgekehrt proportional hohem Interesse an deren „Kultur und Tradition“ und die wahnhafte Illusion durch Mülltrennung, atmosfair und Abschaffung der Atomkraft in 25 Jahren so etwas wie ein ökologisches Bewusstsein zu besitzen.

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