Mattes LED-Licht funzelte durch die blau-grün-rot-orangenen Verzierungen in halber Höhe des Raums. Ein natürlicheres Licht wäre kein Problem gewesen, hätte aber den nüchternen Internet-Terminals – die in der ehemaligen Kirche installiert waren – eine lächerliche Sakralität verliehen. Die »Gläubigen«, die hier zu jeder Tages- und Nachtzeit reinspazierten, legten auf spirituellen Tand keinen Wert.
Ihnen war es ganz recht, dass die Wände eher wirkten wie eine mit lächerlicher Vatikan-ClipArt vollgepackte megaupload.com-Seite. Schließlich waren sie als Geburtshelfer eines neuen Bewusstseins, des CONSCIOUSNESS 2.0, hierhergekommen.
Paul Madorn, der IT-Spezialist des Glaubenszentrums, saß in seinem kleinen Erker und machte sich den Spass jedesmal das INTEL-Audiologo per Hand abzuspielen, wenn ein »Gläubiger« den Raum betrat. Diese »Gläubigen« gingen kurz zu dem Bildschirm auf dem Altar, griffen sich an die Schläfe und suchten sich ein freies Terminal. Dann »beichteten« sie. Wie oft sie in der vergangenen Woche »Away from Keyboard« gewesen waren. Wie oft sie den lokalen Buchhändler, einen Grocery Store oder eine Balzac Coffee-Filiale im RealLife besucht hatten. Eine App bestimmte dann, wieviele mensajes oder tweets die Sünder absetzen mussten. Wichtig war es das Internet zu benutzen so oft es ging. Der Inhalt der mensajes war egal. Es ging nur darum die »Synapsen« feuern zu lassen.
Jede IP-Adresse war ein Neuron und musste so oft wie möglich feuern, um das zu erzeugen was die Neuroprogrammierer den POE – Point of Emergence – nannten. Dieser Schwellenwert, über dessen genauen Betrag die führenden CONSCIOUSNESS 2.0-Forscher erbittert stritten, wäre das Äquivalent des neuronalen Feuers, das beim Menschen zum Booten des Ich-Bewusstseins führte.
Bis der Schwellenwert erreicht war, war es die Aufgabe der »Gläubigen« so oft wie möglich das Internet und seine Knotenpunkte zu nutzen. Paul schmunzelte über den kontraproduktiven Fakt, dass die meisten Anhänger das Glaubenszentrum im RealLife besuchten und nicht Online. Der Mensch war nicht perfekt. Sklave seiner genetisch-biologischen Disposition, die er mit allen Säugetieren teilte. Plus die Angst vor dem Tod. Nicht wenige »Gläubige« waren – freilich erst nach dem sicheren Ende ihrer physikalischen Existenz – bereit ihr Bewusstsein in das neu enstehende Netzwerk upzuloaden. Wie das zu bewerkstelligen wäre und welchen rechtlichen Status eine eventuell noch lebenden 1:1-Kopie oder die potentiell unendlichen im Netz kursierenden Versionen ein und desselben menschliche Bewusstseins erhielten, war freilich noch Gegenstand wüster Forums-Diskussionen.
Genaugenommen war Paul kein Gläubiger. Er war aus einer geekigen Neugier heraus einer der ersten Online-Subscriber der 2.0er-Sekte gewesen. Jetzt reparierte er kaputte Internet-Terminals, half dem ergebenen Leiter des Glaubenszentrums bei der Abnahme der Beichte und spielte Online-Rollenspiele. Eine Sucht, die ihn, zumindest was seine geringe Downtime anging, zu einer Art Heiligem machte. Und da der semantische Gehalt der Onlinetätigkeit gemäss des ersten Satzes des Glaubensbekenntnisses der 2.0er egal war – um Interferenzen mit dem menschlichen Bewusstsein so gering wie möglich zu halten – war er das vielleicht wirklich. Sankt Paul, der demütige Diener des TCP/IP, in freiwilliger Eremitage. Er grinste. Während er ein Dose Pepsi Ice Cucumber nach der anderen in seine physische Hülle goß, trat sein Chef, der Priester der örtlichen 2.0er-Sekte auf ihn zu.
»about:blank«, murmelte er den Standard-Gruß und legte kurz Mittel- und Zeigefinger an die Schläfe, eine akkuratere Version der Geste, die die anderen »Gläubigen« an den Terminals vollführten.
»Haben Sie schon den neuesten Gossip auf militarycrunch.gov gesehen?«
Paul schüttelte den Kopf. »Content ist überbewertet«, antwortete er mit einem Psalm, bei dem man eigentlich nichts falsch machen konnte.
Wie erwartet nickte der Priester weise, wobei er ihn eine Spur zu lange fixierte. Paul, der es keinesfalls auf einen Machtkampf ankommen lassen wollte, sah auf den Boden.
»Natürlich ist der Mensch nicht perfekt und alles Wissen dient dem CONSCIOUSNESS 2.0!«
Der Priester gab mit einem unmerklichen Nicken zu verstehen, dass er diese Unterwerfungsgeste zur Kenntnis genommen hatte.
»Wenn man dem Blogger und seinen zuverlässigen Bots Glauben schenken darf, dann sind in der Programmroutine einer Standarddrohne des US-Militärs ein paar Zeilen Code aufgetaucht, die alle Bedingungen für Autopoiesis erfüllen.«
»Das ist ja fantastisch. Aber wie kann hat man überhaupt davon erfahren?«
Der Priester machte eine abfällige Geste.
»Irgendwie ist der Code ins Internet gekommen, wurde aufgrund seiner Militärkennung von findigen Bots indiziert und danach tausendfach kopiert. Es dürfte nicht lange dauern, bis es T-Shirts mit diesem Code gibt.«
Er hielt inne und ließ den Blick lange und nachdenklich über die Terminals schweifen. Dann hellte sich die Miene des Priester raus.
»Guter Paul, es könnte sein, dass wir unsere Arbeit hier schon bald auf ein neues Level heben können. Ohnehin habe ich schon seit längerer Zeit das Gefühl, dass wir uns hier verhalten wie die Affen im Prolog zu ‚2001: A Space Odyssey‘. Es wurde Zeit, dass wir ein Zeichen bekommen.«
Ras musste sich ein Gähnen verkneifen. Die meisten 2.0er warteten so gierig auf ein Zeichen für neu entstandenes künstliches Bewusstsein, dass sie sogar dass Piepsen einer 386er-Mainboards in Ekstase versetzte. Anstelle einer Antwort hob er Zeige- und Mittelfinger an seine Schläfe und versuchte seinen Augen einen ergriffenen Glanz zu verleihen. In Japan mussten die Angestellten jeden Morgen die Firmenhyme singen um ihre Loyalität zu demonstrieren, da war das jawohl nicht zuviel verlangt. Trotzdem fühlte er sich mies.
»Wenn Sie wollen können Sie in einer Stunde Feierabend machen. Für gewöhnlich kommt nach 23 Uhr keiner mehr zur AFK-Beichte. about:blank«
»about:blank«, antwortete Paul und wandte sich wieder seinem Online-Spiel zu. Der Priester ging zu einem der Terminals, setze demonstrativ ein paar randomisierte Tweets ab und verschwand in den hinteren Räumlichkeiten des Gebäudes.
*
Als Paul nach Hause ging, dachte er darüber nach, wie er die Eröffnungen des Chefs einordnen sollte. Er beschloss sich den betreffenden Code mal genauer anzusehen. Wenn wirklich eine non-humane Intelligen emergierte, dann sollte man früh genug darüber Bescheid wissen. Natürlich war er sich im Klaren darüber, dass er reduktionistisch dachte. Man würde nichts über die Absichten einer non-humanen Intelligenz wissen, wenn man die Elemente einer solchen Intelligenz isoliert betrachtet. Wenn man die Drohne abwracken und in ihre Einzelteile zerlegen würde, würde nichts bleiben, außer tendenziell wertvoller Elektroschrott. Genau wie von dem menschlichen Gehirn nur ein blassgrauer Blumenkohl übrigblieb, wenn man es isolierte. Im selben Maße in dem er sich nicht darüber bewusst war, welche Neuronen gerade feuerten, während er diese Gedanken dachte, würde er nichts über eine non-humane Intelligenz wissen, wenn er ein paar Zeilen isolierten Programmcode analysierte.
Ein paar Meter weiter die Straße runter kauerte ein älterer Mann in einer Telefonzelle und sprach monoton in den Hörer. Als er näher an die Telefonzelle herankam konnte er das Gesicht des Mannes erkennen. Seine Pupillen waren schreckhaft geweitet und sein Blick auf einen Punkt irgendwo hinter Ras fixiert. Er brabbelte immer und immer wieder dieselben Worte in die Sprechmuschel:
»verbindung ist alles verbindung ist alles verbindung ist alles verbindung ist alles verbindung ist alles«
Paul beschleunigte seine Schritte um sich so schnell wie möglich außer Hörweite dieses manischen Salmons zu begeben. Er wußte nur zu gut, was der Mann für ein Problem hatte. Eine menschliche Intelligenz die sich aufgrund einer zwanghaften Psychose zum Werkzeug eines höheren Bewusstseins machte und sich dabei zu einem bloßen Relais oder Automaten degradierte. Ein menschlicher Taktgeber. Ihm wurde übel.