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Plattform-Genossenschaften – Ein Arbeitsplatzmodell für das 21. Jahrhundert?

Foodora Fahrer in Gasse

Die Welt der Fahrradkuriere ist ein seltsames Ökosystem, das aus vielen verschiedenen Spezies besteht. Als der Lieferdienst Deliveroo im August 2019 Berlin verließ, gründete eine Gruppe von Fahrradkurieren ihre eigene Kooperative: Kolyma2

Stefano Lombardo – der Gründer von Kolyma2 – arbeitete seit mehr als vier Jahren für den Lieferdienst Deliveroo. Bereits während seiner Zeit dort plante Stefano eine eigene Kooperative zu gründen. Nachdem Deliveroo Berlin verlassen hatte, sah er seine Zeit gekommen. Er gründete die das Lieferkollektiv Kolyma2– mit einer Oldschool-Webseite und einem Telegram-Kanal.

So liebenswert dieser Lo-Fi-Ansatz auch war, Technologie scheint eine entscheidende Rolle in der Welt der Online-Lieferdienste zu spielen. Der Umfang der Kommunikation zwischen Kunden und Fahrer um eine Lieferung abzuschliessen ist enorm. In der Folge musste Kolyma2 schon im November 2019 den Betrieb wieder einstellen. Abgesehen von der Technologie gab es allerdings noch andere Probleme. Es war einfach zu viel Arbeit auf den Schultern von zu wenigen Menschen.

Dies war aber nicht das Ende von Kolyma2. Im Januar 2020 kehrten sie zurück, ausgestattet mit einer besseren Infrastruktur. Geholfen hat ihnen dabei der französische Software-Entwickler Alexandre Segura, auch bekannt unter dem Namen Mex, und die Plattform Coopcycle. Zusammen mit dem Covid-19-Shutdown, der das Lieferdienst-Business ordentlich ankurbelt, boomte das Geschäft im Frühjahr 2020.

Die Coopcycle-App war sehr hilfreich bei der Verwaltung der Transaktionen. Nebenbei brachte sie auch solche Kunden, die darauf bestanden, eine echte App zu verwenden. Von 60 Bestellungen an einem Wochenende in 2019 stieg das Aufkommen auf 80 Bestellungen pro Tag. „Dies war wichtig für die Nachhaltigkeit von Kolyma2, sagt Stefano, „denn es ist notwendig ausreichend Einnahmen zu generieren. Engagement und Idealismus allein reichen nicht aus um eine Kooperative zu betreiben. 2019 sind wir einfach implodiert. Ausgebrannt.“

Auch Coopycycle selber – Entwicklerin der neuen App, die das Herzstück von Kolyma2 bildet – war die Folge des Bankrotts einer Lieferfirma. In diesem Fall war es das belgische Startup-Unternehmen Take Eat Easy. Mitte 2016 meldete Take Eat Easy Bankrott an und hinterließ viele unbezahlte Freiberufler. Mex dachte lange darüber nach, wie es sein konnte, dass ein Millionen-Dollar-Startup so drastisch scheitern und dabei sein ganzes Geld verlieren konnte. War es so schwierig eine Online-Bestell-App zu konstruieren und diese wirtschaftlich zu betreiben? Mex klonte die Take Eat Easy-App und spielte damit herum. Die ehemaligen Fahrer von Take Eat Easy hatten unter dessen angefangen sich zu organisieren und die Idee von Kooperativen mit Tarifverhandlungsmacht begann in Frankreich und Belgien Gestalt anzunehmen.

Eine Kooperative für das 21. Jahrhundert

Zu jener Zeit hielt Mex Genossenschaften noch für ein Konzept aus dem 19. Jahrhundert. Dann wurde ihm klar, dass diese Idee auch in der moderne Welt funktionieren könnte. Er wollte eine App entwickeln, die den Fahrradkurieren gemeinsam gehört und die sie als Betriebskapital kollektiv nutzen können. Mit Coopcyle können Online-Lieferdienste auf lokaler Ebene betrieben werden, ohne dass Abhängigkeiten von globalen Strukturen bestehen.

„Technologie ist natürlich nicht alles“, fügt er hinzu, „aber man braucht eine App und eine funktionale Website um konkurrenzfähig zu sein.“

Also warum nicht eine Open-Source-Lösung entwickeln und verbreiten? Für Kooperativen wie Kolyma2, bedeutet dies, auf eine gebrauchsfertige Softwarelösung zugreifen zu können, für eine monatliche Gebühr, die sich nach dem Umsatz auf der Plattform richtet. Kolyma2 schloss sich Coopcycle an und war zurück auf dem Markt.

Dass Fahrradkuriere eine Genossenschaft gründen ist vermutlich nicht ungewöhnlich. Sie sind oft eher dem politisch linken Lager zugeneigt, anarchistisch und ökologisch bewusst. UBER-Fahrer beispielsweise dürften einem anderen gesellschaftlichen Milieu angehören.

Mattia und Dana – beide Mitglieder des Kolyma2-Kollektivs – sind der Meinung, dass der Unterschied zwischen einer Kooperative wie Kolyma2 und einem Unternehmen wie Deliveroo im unterschiedlichen Engagement der Mitglieder liegt. Es ist anders, für ein Kollektiv zu arbeiten als für einen Geschäftsführer, dem man vielleicht nie begegnen wird.

Kolyma2 hat keine regelmäßigen Meetings, aber alle Kuriere kommunizieren ständig per Messenger-App. Das fühlt sich für sie einfach organischer an. Nicht jeder beteiligt sich gerne an den Organisationsprozessen in der Kooperative. Selbstorganisation kann eine Menge Arbeit sein. Manche wollen einfach nur mit dem Fahrradfahren ihren Lebensunterhalt verdienen.

„Es ist definitiv ein Vorteil, den Arbeitsprozess kennen zu lernen“, sagt Mattia, „weil man sich in einem Unternehmen wie Deliveroo immer auf Abstand gehalten fühlt und man nie weiß, wie lange der Job noch geht.“

Plattform-Ökonomie – wie das Geschäftsmodell von z.B. Deliveroo, Lieferando, UBER und Air B’nB genannt wird – ist ein relativ neues Phänomen. Als diese Unternehmen auftauchten, taten die traditionellen Gewerkschaften zunächst wenig um die Beschäftigten vor den neuen, damit einhergehenden Formen der Ausbeutung zu schützen. Die Arbeit in der Plattform-Ökonomie erscheint als unabhängige, freiberufliche Arbeit, aber in Wirklichkeit ist sie es nicht. Klassenkampf ist nach wie vor der Kern des Phänomens: Einige Plattformen wie z.B. UBER beschäftigen „Freiberufler“, weil sie keine Sozialleistungen wie Urlaub, Krankenversicherung, Krankentagegeld usw. zahlen wollen. In jedem Fall ist die Plattform-Ökonomie von einem starken Verdrängungskampf geprägt, aus dem in der Regel nur ein Unternehmen als Sieger hervorgeht. Dieses disruptive Geschäftsgebaren hat natürlich Auswirkungen auf die nationale und globale Wirtschaft. Man muss Marx nicht überbeanspruchen, um zu erkennen, was hier passiert.

Dieses als gig economy bezeichnete Arbeitsverhältnis ist jedoch keine Einbahnstraße. Zumindest in der Welt der Fahrradkuriere schätzen die meisten Menschen ihre Freiheit mehr als einen festen Arbeitsvertrag. Dies ermöglicht eine Flexibilität für alle, nicht nur für die oberen Ränge. Aber es scheint, dass diese Flexibilität ein Vorteil ist, den nicht die jede(r) schätzt. In Paris, so erzählt Mex, sind die meisten Lieferfahrer (illegalisierte) Migranten, die die Arbeit tun, weil sie keine andere finden.

(Dies ist aber sicher nicht allein die Schuld der Internet-Plattformen, sondern eher eine Ergebnis der allgemeinen Situation von Migranten in Europa, an deren Verbesserung die Politik bisher kläglich gescheitert ist. Die Küchen aller Restaurants aller Großstädte dieser Welt sind voll von illegalisierten Einwanderern).

Für Dana, zum Beispiel, ist Sicherheit ist nicht wirklich ein Thema, wenn es um ihre Arbeit geht. Sie bevorzugt es, in der Gegenwart zu leben und nicht in einer möglichen Zukunft. Mattia hatte einen festen Vertrag bei Deliveroo, aber in Wirklichkeit war sein Arbeitsverhältnis alles andere als sicher, erzählt er. Es war ein Sechsmonatsvertrag mit automatischer Verlängerung, aber als Mattia am Ende eines Vertrages länger krank wurde, stellte sich heraus, dass es einen solchen „Automatismus“ gab. Jetzt arbeitet er lieber für eine Kooperative, in die er Vertrauen hat. Ein Vertrag mit einem festen Gehalt würde sich für ihn im Moment nicht richtig anfühlen.

„Vielleicht hat der Neoliberalismus schon mein Gehirn gewaschen“, sagt er mit einem Lächeln. Er genießt es, etwas aus seiner Hände Arbeit wachsen zu sehen. „Fahrradkurier sein ist keine gute Arbeit, wenn man sie nicht freiwillig macht. Aber wenn es einem Spaß macht, kann es die beste Arbeit der Welt sein.“

Bis jetzt ist Kolyma2 nur ein Netzwerk von Freiberuflern, aber das wird sich bald ändern, da das Unternehmen „Smart“ beitreten wird. „Smart“ ist eine rechtliche Struktur, die es Freiberuflern ermöglicht, Teil einer Genossenschaft zu werden. Sie schließen einen Vertrag auf der Grundlage ihres projektierten Einkommens und die Genossenschaft zahlt ihnen einen Monatslohn. Kolyma2 wird bei Smart unter einem rechtlichen Schirm stehen, bis sie bereit sind sich selbst zu finanzieren. Bis heute gibt es keine geeignete rechtliche Struktur für eine Kooperative in Deutschland. Es gibt das Modell einer Genossenschaft, aber das ist kompliziert und nicht geeignet für ein kleines Unternehmen wie Kolyma2. Es ist eher etwas, das für EDEKA funktioniert oder Baugenossenschaften.

Reputation und Quellcode

Ein wichtiges Thema in der gig economy ist die Reputation, bzw. das „Rating“. Auch Wirtschaftsliberale werden zustimmen, dass jemand, der eine gute Erwerbsbiographie hat, in der Lage sein sollte, diese bei der Arbeitssuche zu nutzen. Plattformen wie UBER oder Deliveroo hingegen speichern das „Rating“ der Freelancer auf ihren Servern und die Daten gehören dem Unternehmen. So verschwindet ein Teil der Erwerbsbiografie, wenn man aufhört für das betreffende Unternehmen zu arbeiten. Es wäre also wichtig, einen Weg zu finden, wie Freelancer ihre Erfahrungen und ihre Bewertungen dokumentieren können.

Außerdem ist – wie oben bereits erwähnt – die Software selbst ein entscheidendes Werkzeug für Plattform-Kooperativen wie Kolyma2. Die App von Coopcycle läuft auf einer von Dmytri Kleiner inspirierten Lizenz – Coopyleft. Um zu verhindern, dass ein Riese wie Lieferando einfach kommt und die Software für sich beansprucht, enthält die Coopyleft-Lizenz bestimmte Nutzungsbedingungen. So kann der Quellcode nur von soclhen Unternehmen kommerziell verwendet werden, die ein Genossenschaftsmodell nutzen, bei dem die Arbeitnehmer*innen ein Mitbestimmungsrecht haben.

Sind Plattform-Kooperativen wie Kolyma2 die magische Zutat für den Übergang der kapitalistischen Wirtschaft zu einer postkapitalistischen Wirtschaft? Sicherlich nicht, aber sie können eine entscheidende Rolle spielen, wenn es darum geht, neue Modelle der betrieblichen Demokratie und Arbeitnehmer*innen-Organisation auszuprobieren.

In seinem Buch „Plattform-Kapitalismus“ argumentiert Nick Srnicek, dass der Staat bei alternativen Plattform-Modellen zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit als eine Art Risikokapitalgeber auftreten sollte. Stefano Lombardo ist damit nicht einverstanden. Er ist der Meinung, dass sich der Staat aus diesen Fragen heraushalten sollte. Die Arbeitnehmer*innen sollten auf die harte Tour lernen, ein Unternehmen zu führen, anstatt Finanzierungsanträge auszufüllen, anders würden sie nicht genug über ihre Kunden und deren Bedürfnisse erfahren. Hier klingt der Kooperativist fast wie ein(e) moderne(r) Manager*in.

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