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Shawn Austin – Extinguisher – Das erste Kapitel

1. Kapitel: Mark’s Wrestling Bar

Felix beobachtete die Spiegelungen im Panoramafenster des U-Bahn-Wagons. Durch seinen verwirrten Kopf schossen lose assoziierte Gedankenfetzen. Warum prallen die Photonen nur von der Scheibe ab, wenn es dahinter dunkel ist? Warum gibt es überhaupt Fensterscheiben von so beträchtlicher Größe in einer U-Bahn, wo es doch die meiste Zeit rein gar nichts zu sehen gab? War Glas etwa billiger als das Blechmaterial aus dem der Rest der Wagons bestand? Oder steckte die Werbeindustrie dahinter, die sicherstellen wollte dass die Plakate an den Haltestellen auch von den Fahrgästen wahrgenommen wurden?

Im Fenster spiegelten sich die Gesichter der üblichen U-Bahn-Klientel. Blass-fahle Neongespenster, den Blick ins Unendliche fokussiert, die Mundwinkel mit verbissenen Lippen leicht nach unten gekräuselt. Menschen die wohl an ihr Leben nach der U-Bahnfahrt dachten, ein Leben das sie als glücklich antizipierten. Menschen taten dies ständig. Während sie ein Zwölftel ihres Tages in öffentlichen Verkehrsmitteln verbrachten, üblicherweise vier Zwölftel in ihrer Arbeitsstelle und mindestens drei Zwölftel mit schlafen, träumten sie davon was sie mit dem restlichen Drittel des Tages anstellen würden. Freilich ging von diesem Drittel noch die Zeit für das Besorgen und Einnehmen von Nahrung, die Körperpflege und die versuchte Anbahnung von Geschlechtsverkehr ab. Blieben im Idealfall noch vier Stunden um die Welt zu verändern.

„Der Sprung in einen kühlen See nach acht Stunden Arbeit gehört auf jeden Fall auf die Liste der Dinge die die Welt verändern können“

hatte Marek gesagt, als sie heute nach der Arbeit mit dem Auto zum See gefahren waren. Tamara aus der schicken Werbeagentur, Marek, ein Literaturwissenschaftler mit Wirtschaftsambitionen, und Felix der notorisch unerfolgreiche Freiberufler. Auf dem Weg zurück in die Stadt war das Gespräch der bereits alkoholisierten Männer auf das leidige Thema Politik gekommen. Felix vermied normalerweise solche Diskussionen da ihm das Meinungseinerlei der von den einschlägigen Infotainment-Sendungen gespeisten Realos gehörig auf den Sack ging. Wie hatte das Foucault genannt? Ach ja, Diskurs! Nun, dann war der Diskurs der meisten seiner Freunde und Kollegen die sich überhaupt für Politik interessierten klar abgesteckt: Erhaltung der Standortvorteile durch Opfergaben an die Wirtschaft, ein gesundes Misstrauen gegen im Lande arbeitende Ausländer gepaart mit einem dazu umgekehrt proportional hohem Interesse an deren „Kultur und Tradition“ und die wahnhafte Illusion durch Mülltrennung, atmosfair und Abschaffung der Atomkraft in 25 Jahren so etwas wie ein ökologisches Bewusstsein zu besitzen.


So hatte Marek auch diesmal tatsächlich argumentiert, man solle vor rechten und linken Gruppierungen auf der Hut sein, es sei eigentlich immer so, das die Extreme nicht gut für die Menschen seien. „Genau“, hatte Tamara begeistert entgegnet, „der Mittelweg ist eigentlich immer das Beste für alle!“ Spätestens hier hatte Felix auch diesmal das Interesse an der Diskussion verloren. Wie konnte es sein, dass überdurchschnittlich gebildete Menschen immer zu solchen Kindergarten-Hegelianern mutierten, als hätte es Marx, Nietzsche oder den ollen Adorno nie gegeben. Na klar! These und Antithese werden zur Synthese vereint, wobei der geschichtliche Zusammenhang natürlich berücksichtigt werden muss. In den Augen dieser Realos konnte man doch tatsächlich rechte Herrenmenschen- und Volksideologie, Hurra-Patriotismus und dumpfen Pathos aufrechnen gegen die Verbrechen Stalins, die chinesische Kulturrevolution und Pol Pot und heraus kam der demokratische Bundesstaat mit glücklichen Bürgern. Für Felix war das linke Denken immer sehr unscharf definiert gewesen. Ein Aufbegehren gegen verhärtete und unterdrückende Strukturen, eine Abneigung gegen Arbeitsethos und neoliberale Wachstumslogik.

„Am Rande jedes gesellschaftlichen Systems existieren Menschen die auf das Ende dieses Systems warten. Es sind autonome Subjekte die ohne die permanente Revolution nicht leben können. Ist ein System zerschmettert und wird durch ein neues abgelöst folgt nach einer kurzen Phase der Euphorie die alte Stagnation.“

Felix war ein solches Subjekt. Zumindest dachte er es in den wenigen Stunden des Tages, die er nicht damit zubrachte für TV-Produktionen oder Technologie-Riesen zu arbeiten. Adorno hatte mal sinngemäß geschrieben das jeder Vater seinen Sohn des Müßiggangs verdächtige und sich darauf verließe, dass das ‚wirkliche Leben‘ mit dem Zwang zum Broterwerb ihm solcherlei Flausen austreiben würde.

Irgendwie schien es geknechteten Menschen eine diebische Freude zu bereiten andere Menschen ihrer Utopien zu berauben. Churchill musste ähnliches im Sinne gehabt haben als er sein berühmtes Bonmot verkündete, wer mit Zwanzig kein Sozialist sei habe kein Herz, wer es mit Dreißig aber immer noch sei habe kein Hirn. Er meinte wohl statt Hirn eher ein Faible für gute Zigarren, eine große Villa und Verwicklungen in diverse schmierige Geschäfte.

Die U-Bahn hielt heulend an der Station an der Felix aussteigen musste. In diese Gegend, ein Vergnügungsviertel welches einem zentralen Banken- und Versicherungsghetto vorgelagert war, verkehrte Felix nicht häufig. Heute aber hatte ausgerechnet Felix ausgerechnet von seinem Kreditinstitut einen „actiongelanden Allnighter“ in der Aktion „Junges Geschäftskonto“ gewonnen. Offenbar schien sich der PR-Berater des Kreditinstitutes weder körperlich noch geistig aus seiner AfterWork- und Caipirinha-Welt fortbewegen zu können und hatte in der branchenüblichen Arroganz beschlossen dass sich jeder junge Mensch auf jeden Fall und ausschließlich in diesem Mini-Las-Vegas amüsieren müsste. Auf dem Programm standen ein Wrestling-Adventure, ein All-You-Can-Drink-Ticket für alle Bars einer großen Kette und ein Fast-Food-Menü. Alles für EINE Person! „Dann bringen wir es mal hinter uns“, knurrte Felix und betrat die, natürlich mit sinnloser Apostrophierung versehene, Leuchtstoffröhrenhölle „Mark’s Wrestling Bar“.

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